Tragik und Gerechtigkeitsempfinden: Von der Ständeklausel zur Menschenwürde

Welche ist die tragischste Figur in Friedrich Schillers Drama Maria Stuart? Maria? Nein, sie scheidet glücklich und umringt von ihren Angehörigen aus dem Leben und ist die heimliche Gewinnerin der Tragödie. Elisabeth? Sie handelt häufig unmoralisch, ihre letztendliche Isolation scheint uns Lesern verdient, äußerst untragisch. Mortimer? Denkbar, denn er stirbt für die Freiheit, die Religion und – vor allem für die Liebe. Doch wird dieser (Groß)Mut überschattet von seiner Rücksichtslosigkeit einerseits, von der extremen jugendlichen Naivität andererseits. Mortimer ist allenfalls ein sympathischer Charakter, der ein wenig Schwung in das Altherren-Geplänkel des englischen Hofes bringt. Sein Tod betrifft uns, ist jedoch absehbare Konsequenz seiner Tollkühnheit, seiner emotionalen Spontaneität, seiner Blindheit vor Liebe.

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Aristoteles, dem Begründer der Dramenkunde, zufolge besteht Tragik im Auslösen von eleos und phobos – Mitleid und Furcht – beim Rezipienten. Das Mit-Leiden mit dem Leidenden, verbunden mit der Furcht, das Geschehene könne auch zum eigenen Schicksal werden, soll eine katharsis beim Zuschauer auslösen: die Läuterung seiner Seele, die Reinigung derselben von jeglicher im Geist kursierenden Ungerechtigkeit. Das Theater war Teil des Erziehungsprogramms. Wie erweckt man also am besten die Gefühle des Zuschauers? Was muss ein Autor tun, um seine Leser mit den Charakteren leiden zu lassen?, um bei diesen eine Einsicht in das eigene Fehldenken zu erzeugen? Wie erreicht man am besten, dass der Leser seine Seele von allen schmutzigen Gedanken befreit, den Neujahrsputz mit dem vom Autor vertriebenm Reinigungsmittel vollführt?

Hier kommt die Gerechtigkeit ins Spiel. Dieses unfassbare, weil ambivalente Kulturgut, von jedem Menschen anders ausgelegt, doch als Grundingredienz in jedem zoon politicon in Form von -empfinden vorhandene Mysterium macht den Unterschied! Diesen Schalter hat ein Autor zu finden und umzulegen; anschließend kann er sich erquicken an wütend aufspringenden Theater-Besuchern, schäumenden Mündern und aufgebrachten „Das darf doch nicht sein“-, „Das kann doch nicht angehen“-Rufen.

Das Gerechtigkeitsempfinden des Zuschauers muss also erregt werden, so dass diesem aufgrund der eigenen Machtlosigkeit nichts anderes mehr bleibt als das Mitleid mit dem ungerecht Behandelten. Je ähnlicher der Leidende dem Zuschauer selbst nun ist, je mehr sich dieser mit der tragischen Figur identifiziert hat, desto größer wird die Furcht-Wirkung sein, desto eher werden Eimer und Lappen in die Hand genommen.

Die tragischste Figur in Maria Stuart ist Staatssekretär Wilhelm Davison.

Auf diesen unglücklichen, real existiert habenden Menschen hat Elisabeth mit ungerechter, feiger, dreister Willkür die Verantwortung über den Tod Marias übertragen. Diesem mitleiderregenden Diener schiebt Elisabeth letztendlich jede Schuld zu. Er ist der perfekte Sündenbock, weil er sich nicht wehren kann. Vor Shrewsbury gibt Elisabeth an, Marias Tod gar nicht gewollt zu haben und der begossene Pudel Davison kann nur danebenstehen und ungläubig, unfassend dreinschauen. Er muss zusehen, wie der allzeit gerechte, milde und weise Lord Shrewsbury verächtlichen Tones seine Bestrafung fordert. Auch diese Reaktion des Shrewsburys, der die ganze Zeit für Gerechtigkeit eingetreten ist und jetzt in höchstem Maße ungerecht urteilt, ohne sich dessen bewusst zu sein, erzeugt einen enormen Eindruck auf den Leser. Die Szene steht gewissermaßen für die Kapitulation vor der Ungerechtigkeit der Welt.

Nun ist von Aristoteles des Weiteren gefordert worden, nur guten und schönen Menschen einen Platz im Drama zu geben, was später sozial interpretiert wurde und als Ständeklausel in der Tragödiendichtung seinen festen Platz fand. Auch Maria Stuart befolgt diese Ständeklausel, die besagt, dass alle Charaktere aus dem Adel stammen müssen. Der Hauptgrund für diese heute befremdlich erscheinende Regel ist die tragische Fallhöhe. Ein hoch positionierter Charakter wird – so die Logik – weitaus tiefer hinunterfallen, nachdem ihm ein Unglück widerfahren ist, als eine von vornherein sozial niedere Figur. Die Böhsen Onkelz brachten es auf die Formel „Wie tief willst du noch sinken“ – nun ja: jemand der schon unten ist, kann schließlich kaum tiefer fallen.

Mit dem Ende der Vorstellung, manche Menschen wären wertvoller als andere – nach dem Ende der Sklaverei, dem Untergang des Adels, und der Frauen-Emanzipation in der westlichen Hemisphäre ist diese Idee längst überholt. Heute gestehen wir jedem Individuum seine Menschenwürde zu, und es macht für uns keinen Unterschied mehr, ob Davison nun zum niederen Adel gehörte oder zum Hofadel. Da wir auch einem Obdachlosen die Menschenwürde zugestehen, betrachten wir seine Misshandlung als hochgradig ungerecht und feige. Wir haben vermutlich sogar mehr Mitleid mit dem von Behörden gebeutelten Sozialhilfeempfänger als mit dem wohlhabenden Börsianer, der aufgrund der Finanzkrise große Verluste einstecken musste.

Seit Lessings Bürgerlichem Trauerspiel und der Erhebung des 3. Standes im 18. Jahrhundert war die Ständeklausel im Rückwärtsgang, heute spielt sie keine Rolle mehr. Doch die Frage nach Funktion und Wirkung einer Tragödie und der Versuch, die Tragik der Tragödie zu fassen scheinen zeitlos.

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Maria Stuart – Analyse Tragik
Wissen verdoppelt sich, wenn man es teilt.
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