Gedichtinterpretation: Ulla Hahn,Mit Haut und Haar

Das Liebesgedicht „Mit Haut und Haar“ von Ulla Hahn, das sie 1981 in der Gedichtsammlung
„Herz über Kopf“ veröffentlicht hat, handelt von einem vermutlich weiblichen lyrischen Ich, das
seine Geschichte über eine zurückliegende Beziehung zu einem älteren Mann reflektiert und
verarbeitet.
Zu Beginn der Beziehung schildert das lyrische Ich, wie es einen Partner, der älter als es ist,
kennenlernt und ihm verspricht, sich niemals von ihm zu trennen und sich selbst treu zu bleiben.
Im weiteren Verlauf erinnert sich die junge Frau (das lyrische Ich) an den Selbstverlust, den sie
durch den Partner erlitten hat. Durch die Widerspiegelung und Verarbeitung der Beziehung erkennt
sie die wahre Ernsthaftigkeit des Selbstverlustes und die eigene Unterwerfung dem Partner
gegenüber.
Als der Partner jedoch den vollen Besitz von ihr ergriffen hat, trennt er sich vollständig von ihr.
Die junge Frau stellt im gesamten Verlauf fest, dass sie sich von sich selbst entfremdet hat und
sich nicht mehr mit ihrer Unterwürfigkeit identifizieren kann.
Nach meinem ersten Textverständnis ist die Intention des Gedichts, zu zeigen, dass eine intime
Beziehung einen Partner psychisch negativ verändern kann, sodass man sich nicht für den
anderen Partner völlig aufgeben sollte. Dies stellt die Dichterin durch das durchgängige Motiv „Mit
Haut und Haar“ dar.
Das sonettartige Gedicht besteht aus 14 Versen in vier Strophen. Die ersten drei Strophen
bestehen aus je vier und die letzte Strophe aus zwei Versen.
Die Reimschemata bilden zwei Kreuzreime (abab), ein umarmender Reim (cddc) und ein
Paarreim (gg). Das Metrum ist der fünf-hebige Jambus. In Vers eins der zweiten Strophe ist ein
sechs-hebiger Jambus vorzuweisen, in Vers drei der zweiten Strophe ein vier-hebiger Jambus.
Die strenge Form des sonettartigen Gedichts lässt sich auch am Inhalt beweisen: In der ersten
Strophe wird einerseits die Dominanz des lyrischen Ichs durch eine doppelte Anapher (I, 1 u. 3; 2
u. 4) „Ich zog .. ich leckte“; „und tauchte … und schwor“ und durch das Dasein als Handlungsträger
verdeutlicht; andererseits jedoch wird beim Leser ein Eindruck der Unterwürfigkeit erzeugt.
Dies kann durch den Bezug auf das männliche Gegenüber als Objekt und Empfänger der Handlung
allen Versen entnommen werden (I, 1-4)Bsp.: „…ich leckte dir die Hand und Haut und
Haare …“.
Um diese Antithetik zu unterstützen, bedient sich die Dichterin Metaphern(I,1) „Senke deiner
Jahre“ ; (I,2) „und tauchte dich in meinen Sommer ein“. Hinzu kommt eine polysyndetische
Alliteration (I,3) „Hand und Haut und Haare“.
Die erste Strophe endet mit dem Schwur, sich selbst treu zu bleiben, der in diesem Fall eine
weitere These darstellt (I,4) „ich schwor dir .. mein .. zu sein“.
Aufgrund des Subjektwechsels und damit auch des Wechsels des Handlungsträgers kann davon
ausgegangen werden, dass die ersten beiden Verse der zweiten Strophe die Antithese zur ersten
Strophe darstellen. In diesen beiden Versen „berichtet“ das lyrische Ich, wie das Gegenüber es in
Besitz genommen hat. Ulla Hahn macht darauf mit einer Wiederholung (II,1) „Du wendetest mich
um. Du branntest mir dein Zeichen ..“ und dem tierischen Vokabular (II,1/2) „Du branntest mir dein
Zeichen mit sanften Feuer in das dünne Fell“ aufmerksam. Diese gleichzeitige Metapher ist Beweis
für die Brandmarkung des lyrischen Ich seitens des Partners, wie man es nur mit Tieren tut. Die
Antithetik besteht zudem in dem Bruch des Schwurs, sich selbst treu zu bleiben, da der weibliche
Partner einfach den Prozess der Inbesitznahme über sich ergehen lässt. Denn dies ist in den
ersten beiden Versen der zweiten Strophe der Fall. Aufgrund des verwendeten Adjektivs „sanft“
kann man davon ausgehen, dass die Inbesitznahme und Veränderung des lyrischen Ich
allmählich, gewaltfrei und mit Einwilligung des lyrischen Ich geschah. Hierauf folgt – in der Mitte
des Gedichts liegend (II,3) – die Reflektion des lyrischen Ich, das sich nicht mehr mit sich selbst
identifizieren kann (II,3/4) „Da ließ ich von mir ab und schnell begann ich vor mir selbst
zurückzuweichen …“.
Durch das strophenübergreifende Enjambement (II/III,4/1) „begann ich vor mir selbst
zurückzuweichen und meinem Schwur“ wird explizit deutlich, dass das lyrische Ich den Schwur im
Nachhinein nicht mehr aufrecht erhalten kann. Dadurch ist es an einen Punkt gelangt, an dem es
sich absolut von seinem damaligen Verhalten und Charakter entfremdet. Der weitere Verlauf der
dritten Strophe bestätigt dies und vermittelt, dass das lyrische Ich vom jetzigen Erzählzeitpunkt aus
betrachtet gar keinen Bezug mehr zu seinem zurückliegenden Charakter hat, da dieser nur auf
den Partner ausgerichtet war. Der verwendete Kreuzreim unterstützt in diesem Fall die Annahme
für eine Verarbeitung der Beziehung, da die weibliche Hauptfigur hier einen Dialog mit sich selbst
ausführt (III,1-4) „…noch Erinnern… nach mir rief… in deinem Innern… verbargst mich tief.“.
In der letzten Strophe des Gedichts befindet sich eine Art Pointe: Der erste Vers der vierten
Strophe bildet eine These, die ein mögliches Ende sein könnte. Jedoch verlangt das Reimschema
einen weiteren Vers, um die strenge Form zu vervollständigen. Dieser letzte Vers ist die Antithese
zum vorherigen Vers und zeigt den absoluten Abbruch der Beziehung, der durch die körperliche
Abstoßung des lyrischen Ich seitens des Partners erfolgte, als die Beziehung auf dem Höhepunkt
war. Die Dichterin verwendet hierzu abschließend das durchgängige Motiv „Mit Haut und Haar“.
Die letzte Strophe weist zudem noch eine antithetische Parallelität auf, die sich auf den zweiten
und dritten Vers der zweiten Strophe bezieht. Diese Verse verdeutlichen die Inbesitznahme der
Frau seitens des Partners und stehen im Widerspruch zur letzten Strophe, in der die Frau verlassen
wurde. Die Parallelität entsteht durch das Reimschema (Paarreim).
In der vollständigen Betrachtung des Gedichts ist die sonettartige Form als strikte, aufgezwungene
Verarbeitung der Beziehung zu deuten. Die festen Regeln bestimmen das konsequente Nachdenken
über Vergangenes. Bei dieser Reflektion erkennt das lyrische Ich, dass es sich durch die
Aufopferung dem Partner gegenüber negativ verändert hat.
Betrachtet man die Strophen genauer, zeigt sich, dass jede Strophe einen Teil einer Gesamtentwicklung
der jungen Frau und ihrer Beziehung enthält:
Die Hauptaussage von Strophe 1 ist die Unterwürfigkeit, die das lyrische Ich dem Partner durch
das Verhalten eines unterpositionierten Tieres entgegenbringt(I,3) „ich leckte dir die Hand und Haut
und Haare“. Hierbei nimmt die junge Frau in Kauf, dass der Partner älter ist als sie selbst und sie
ihn zunächst „aus der Senke seiner Jahre ziehen“ und den Partner „in ihren Sommer eintauchen“
muss.
Eine weitere Konsequenz ist das „Umwenden“ und die „Brandmarkung“ der jungen Frau. Durch
diese Inbesitznahme wird sie von ihrem Partner abhängig. Zudem ist die zweite Strophe der erste
Schritt, in dem der Partner und das lyrische Ich „zusammenwachsen“, was durch den Partner
gegen den Willen des lyrischen Ich geschieht. Ein Hinweis hierfür ist der verwendete Paarreim
(II,2/3) „mit sanftem Feuer in das dünne Fell. Da ließ ich von mir ab und schnell“.
In Strophe III reflektiert das lyrische Ich zwei verschiedene Entwicklungsstadien: Zu Beginn der
Beziehung kann sich das lyrische Ich noch mit seinem Verhalten identifizieren, sodass der Vorgang
des „Zusammenwachsens“ mit dem Partner gerade erst begonnen hat. Das zweite Stadium zeigt
auf, dass das lyrische Ich und der Partner kurz vor der „absoluten Vereinigung“ stehen, was
bedeutet, dass das lyrische Ich so gut wie total abhängig von seinem Partner ist.
Diese beiden unterschiedlichen Entwicklungsstadien bilden die Antithese zum Reimschema, das
eine gleichrangige „Dialogstruktur“ vorsieht.
Als die Beziehung auf dem Höhepunkt angelangt ist, hat sich das lyrische Ich für den Partner völlig
aufgegeben und ist mit ihm „zusammengewachsen“.
Dies alles ironisiert die Dichterin, indem der Partner das lyrische Ich am Ende „mit Haut und Haar
ausspuckt“.
Das durchgängige Motiv „mit Haut und Haar“ verdeutlicht in der ersten Strophe die intensive
körperliche Liebe der jungen Frau zu ihrem Partner.
Daraufhin zeigt das Motiv die Inbesitznahme der Frau durch den Partner. Da das Motive „mit Haut
und Haar“ im normalen Sprachgebrauch etwas Vollkommenes ausdrückt, stellt es in diesem
Zusammenhang die vollkommene Vereinigung von lyrischem Ich und dessen Partner dar.
Am Ende der Beziehung wird das lyrische Ich „mit Haut und Haar ausgespuckt“, wie Rotkäppchens
Großmutter vom bösen Wolf „mit Haut und Haar“ gefressen wird.
Diese Parallelität zeigt in beiden Situationen etwas Vollkommenes. Diese Vollkommenheit gibt es
wiederum parallel zum letzten Vers der vorletzten Strophe des Gedichts, in der die vollkommene
Beziehung positiv charakterisiert wird. Hierauf folgt die vollkommene Abstoßung des lyrischen Ich.
Ein Paarreim stellt hierbei die Verknüpfung her (IV,1/2) „Bis ich ganz in dir aufgegangen war: da
spucktest du mich aus mit Haut und Haar.“.
Ein weiteres Merkmal dieses Motivs ist das verwendete tierische Vokabular, das auf die niedrigere
Position im Leben der jungen Frau zu ihrem Partner aufmerksam macht.
Aufgrund dieser niedrigeren Position ist vorausgesetzt , dass sie sich für ihren Partner aufgibt.
Dies führt zum Selbstverlust der jungen Frau und wird mit einer diffamierenden Abweisung
„belohnt“.
Das folgenschwere Verhalten des Partners in Form der Ausnutzung seiner Gefährtin dürfte in jeder
Beziehung zu psychischen Schäden führen.
Der harte Verstoß des Partners erfordert eine gewisse Verarbeitung der Beziehung.
Die junge Frau verarbeitet ihre Beziehung von einem distanzierten Standpunkt aus, um
psychischen Schäden aus dem Weg zu gehen.
In Anbetracht der vorausgegangen Analyse und Interpretation ist meine Interpretationshypothese
grundlegend zu bestätigen, lediglich zu konkretisieren und erweitern.
Meiner Meinung nach ist das Gedicht ein stilistisches und inhaltliches Meisterwerk, was mit der
Abstimmung von Form und Inhalt in idealer Weise zusammenhängt.

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Gedichtinterpretation
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