Gesellschaftskonflikte damals wie heute
Der Sturm und Drang – eine der bedeutsamsten Epochen der deutschen Literaturgeschichte, dessen Werte, Maximen und Leitgedanken die Gesellschaft maßgeblich prägten. Waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts Rationalität, Empirismus und Emanzipation die dominierenden Gesellschaftsmaximen, so waren es ab Mitte des 18. Jahrhunderts Emotionen, ein reformiertes Persönlichkeitsbewusstsein und das Individuum als zentraler Gegenstand des aufstrebenden Weltbilds. In diesem Zuge etablierte sich das Leitbild des Originalgenies. Eine Person, der Vernunftorientierung und Ratio zuwider ist, und dessen Leitgedanken des Handelns auf puren Emotionen fußen. Man machte es sich klar zum Bestreben, der vermeintlich normativen aufklärerischen Struktur entgegenzuwirken und sich im Zuge dessen gegen die zentralen Werte der Aufklärung aufzulehnen. Kongruent zu diesen Werten verhält sich die Handlung des von Friedrich Schiller verfassten Dramas „Kabale und Liebe“, welches im Jahre 1784 seine Uraufführung feierte. Auch hier ist der Gesellschaftskonflikt beider Stände zentraler Gegenstand des Handlungsstrangs. Die bürgerliche Louise verliebt sich in den adligen Major Ferdinand. Diese Beziehung ist beiden Familien zuwider und sie setzen alles daran, jene Liebe zu unterbinden. Im Zuge der epochalen und zeitgeschichtlichen Einordnung ist ferner zu betonen, dass Schiller Zeit seines Lebens eine Koexistenz beider Epochen, der der Aufklärung und des Sturm und Drang, erlebte. Jener Epochenumbruch war der Impuls und die Schreibgrundlage Schillers, was sich in seinem Werk in zahlreichen Momenten niederschlägt. So versinnbildlicht Louise die Rationalität, Vernunftorientierung und Tugend, welche sie in ihrem Handeln leiten und prägen. Das Pendant dazu bildet Ferdinand, dessen Persönlichkeit stark durch Gefühle und Emotionen geprägt wird. Nebstdem ist die Leidenschaft ein tragender Impuls im Rahmen seiner Handlungen. Doch neben diesen Gegensätzen und Diskrepanzen hat zuvorderst die Intrige eine äußerst tragende und zentrale Stellung im Drama inne. Die Figuren des Dramas machen sich jene vielerorts zunutze und schüren im Zuge dessen auch Konflikte, was die folgende Szene stark untermauert.
Was passiert in Szene 3.2?
Die zugrundeliegende Szene 2 des dritten Aktes stellt den ausgiebigen Dialog zwischen Hofmarschall von Kalb und dem Präsidenten in das Zentrum des Geschehens. Der Szene geht ein Gespräch Wurms und des Präsidenten voraus, welches das weitere Vorgehen der beiden Herren in Bezug auf die intrigante Unterbindung der Liebe umfasst. Auch in Szene 2 hat der Präsident weiterhin das Bestreben ein Keil zwischen die junge Liebe Ferdinands und Louises zu treiben, weswegen er Hofmarschall von Kalb eine Intrige unterbreitet, dessen Ausführung seine Mithilfe erfordert. Zunächst jedoch wird der Hofmarschall nun vom Entschluss Ferdinands, Lady Milford nicht zu heiraten, in Kenntnis gesetzt, was ihn in Irritation versetzt, da sich ein derartiges Verhalten für ihn nicht erschließe, und er die avisierte Heirat bereits in der gesamten Stadt publik gemacht hatte. Um Hofmarschall von Kalb nun zur eigentlich gesponnen Intrige zu bewegen, führt der Präsident einige Gründe auf, weswegen es von oberster Bedeutung ist, den jungen Ferdinand zur Heirat mit Lady Milford zu bewegen. Im Zuge dessen unterbreitet er von Kalb erstmals die eigentliche Intrige, welche ihn erneut in Konfusion versetzt. Einstweilen möchte er der Bitte auch keineswegs nachkommen – Reputationsverlust und gesellschaftliche Ächtung sind die zentralen Sorgen, die ihn in jenem Moment umtreiben. Letztlich sind der Hass auf den Herzog, dessen Intension ebenfalls darin besteht, um Lady Milfords Hand anzuhalten, sowie die Macht des Präsidenten die entscheidenden Impulse, die von Kalb zum Handeln veranlassen. Im unmittelbaren Anschluss an die Szene folgt eine umfangarmer Wortwechsel Wurms und des Präsidenten, dessen Kalkül einstweilen aufzugehen scheint. Kontextuell ist die Szene 2, Akt analog zum 5 – Akt Schema von Freytag in der Peripetie zu verorten, und nimmt folglich eine zentrale Stellung im Gesamtkontext ein.
Der 1. Abschnitt
Schiller untermalt die Konversation der beiden Protagonisten mit einem ganz eigenen Erzählton, jene Rhetorik wirkt sich im Zuge dessen sehr prägend auf die Szene und den Handlungskontext aus. Der zugrundeliegende Auftritt lässt sich in drei umfangreichere Sinnabschnitte gliedern. Im ersten Abschnitt (S.66, Z.15 – S.67, Z.23) erreicht Hofmarschall von Kalb just das Zimmer des Präsidenten und bereits eingangs manifestiert sich der signifikant auffallende Gebrauch von Gallizismen, wie: „mon Dieu“ (S.67, Z.10) oder „Nur en passant“ – Worte, mit welchen Hofmarschall von Kalb in das Gespräch einleitet. Augenscheinlich schmückt sich von Kalb bewusst mit den Insignien des Adels, was sich bisweilen auch in seinem teils geschwollenen, affektierten Jargon niederschlägt: „Die Marriage ist ja in jedermanns Munde“ (S.66, Z.32 f.) und ungeachtet des Bedürfnisses, durch jene Rhetorik den hohen Stand zum Besten zu geben, zeugt es zuvorderst von einem hohen Maß an mangelnder Souveränität und Selbstsicherheit. Unsicherheiten, die von Kalb durch Bedienung dieses Sprachjargons übertüncht und unter einem Schwall affektierter Aussagen erstickt, was die enorme Nutzung der Gallizismen unterstreicht.
Nachdem der Hofmarschall den Präsidenten erreicht, erkundigt er sich der Förmlichkeit wegen zunächst nach dem Wohlbefinden des Präsidenten. Auf die Frage, ob der Präsident denn das imposante Feuerwerk in der Stadt bestaunen möchte, entgegnet ihm dieser: „Ich habe Feuerwerks genug in meinem eigenen Zuhause“ (S.66, Z.20) Doch auch diese Replik des Präsidenten veranlasst zu einer Deutung der Aussage auf Metaebene. So weckt ein Feuerwerk als solches, Assoziationen, wie Dynamik, Hitze, Wut, so wie Entrüstung und Willkür. Zentrale Elemente eines Konflikts, auf welchen der Präsident an jener Stelle – obschon es subtil geschieht – durch Nutzung dieser Metapher aufmerksam macht. Dies unterstreicht zudem, dass auch er die Liebe beziehungsweise die versuchte und anvisierte Entzweiung der beiden Jugendlichen als omnipräsenten Konflikt, desgleichen auch als omnipräsente Sorge wahrnimmt – eine Sorge, die ihn stark zu umtreiben scheint.
Er ist zudem sehr froh, nun mit Kalb in den Dialog treten zu können, um im Zuge dessen die bereits gesponnene Intrige mit seiner Unterstützung in die Tat umsetzen zu können. Daraufhin macht er darauf aufmerksam, dass die Angelegenheit, welche zum Gesprächsanlass geführt hat und seine Hilfe erfordert, sie „beide poussiert oder völlig zu Grund richtet“ (S.66, Z.23f.) Durch diese antithetische Replik stellt der Präsident die Urgenz seines Anliegens dar, mit dem Bestreben, Kalb sowohl einzuschüchtern als auch dafür zu sorgen, dass sich der Hofmarschall seiner fügt. Nebstdem geht hier die enorme – und bei präziserer Betrachtung, augenscheinliche rhetorische Kunst des Präsidenten hervor, der sich dieser bewusst bedient – Im Rahmen dieser Szene als Indoktrinationsansatz. Des Weiteren erfährt der Hofmarschall nun, dass Lady Milford – entgegen seiner Verkündungen in der Stadt – nicht heiraten werden. Ferner berichtetet der Präsident, dass sein Sohn die klare Drohung ausgesprochen hat, im Falle einer erneuten Einmischung, offenkundig darzulegen, dass den Präsidenten unmoralische Verbrechen zu seinem Stand verholfen haben. Aufgrund der aktiven Partizipation Kalbs in diesen Verbrechen versetzt es in Irritation, Fassungslosigkeit und eine, von nun an, sukzessiv wachsenden Orientierungslosigkeit, was sich zuvorderst durch die zahlreichen Fragesätze, wie: „(…) von sich stoßen? Was“. (S.67, Z.7) oder „Sind Sie von Sinnen“ (S.77, Z.17) äußert. Die Metapher „Mein Verstand steht still.“ (S.67, Z.22f.) unterstreicht den Gemütszustand der Irritation und Orientierungslosigkeit ebenfalls sehr eidetisch.
Der 2. Abschnitt
Im folgenden Abschnitt (S.67, Z.24 – S.77, Z.30) erfährt Hofmarschall von Kalb zunächst, dass der Herzog von Bock, aufgrund der Eheablehnung Ferdinands, nun um Lady Millfords Hand anhalten möchte. Dies ist dem Hofmarschall zuwider, was sich signifikant in seiner Gesprächsdynamik niederschlägt. Zunächst in Form rhetorischer Fragen, wie: „Von Bok sagen Sie? – Wissen Sie denn auch (…) Todfeinde zusammen sind?“ (S.67, Z.28 f.), daraufhin durch zahlreiche Parenthesen: „Sehen Sie! Da hatte Prinzessin Amailie in der Hitze (…) – ich bitte Sie! – bringts der Prinzessin und schnappt mir glücklich das Kompliment weg – Was denken Sie?“ (S.68, Z.5 – 13).
Dies untermauert zunächst die These, dass Kalb aufgrund seiner Verzweiflung in der eigenen Gedankenwelt verliert, ferner geben die zahlreichen Parenthesen Aufschluss über sein mangelndes Auffassungsvermögen und seine inzwischen bereits stark intensivierte Irritation. Er kann weder dem Geschehen, der Konversation als solche, noch den eigenen Gedankengängen folgen, was die Replik sehr anschaulich untermalt. Nach einigen Hasstiraden – Herzog von Bock betreffend – versucht sich der Präsident nun an der Unterbreitung der Intrige und mit ihm beginnt der letzte Abschnitt der Szene (S.68, Z.31 -35, S.69, Z.1 -35, S.70, Z.1-35, S.71, Z.1-4)
Der 3. Abschnitt
Der Hofmarschall befindet sich weiterhin in purer Verzweiflung und aus dieser Verzweiflung heraus wendet er sich mit der Frage an den Präsidenten, ob eine Heirat Ferdinands und Lady Milfords nicht doch möglich wäre. Dieser entgegnet, man müsse sie entzweien und dies hinge einzig und alleine vom Hofmarschall ab.
Dieser kann der Aussage in ihrem Sinnesgehalt erneut nicht viel abgewinnen, weswegen er ein weiteres Mal nachhackt: „Zu entzweien? Wie meinen Sie das – und wie mache ich das?“ (S.69, Z.11f.) Durch diesen Parallelismus wird erneut untermauert, mit welcher Einfältigkeit Kalb die hochsensible Thematik behandelt, was auch seitens des Präsidenten in Unmut und Reizung mündet, was sich sehr illustrativ in der folgenden Exklamation, wie: „Ach nein doch!“(S.69, Z.16) äußert.
Nebstdem ist auffällig, wie stark Kalb durch die gesellschaftlichen Normen und Zwänge geprägt ist, da er auf die Frage, ob er Louises vermeintlichen Liebhaber verkörpern würde, intuitiv mit der folgenden Gegenfrage respondiert: „Ist sie von Adel?“ (S.69, Z.20).
An und für sich ist dem Hofmarschall das Vorhaben nicht geheuer, er bangt um seine Reputation und die damit einhergehende gesellschaftliche Stellung.
Doch nachdem Kalb die begründete Sorge hegt, sein ablehnendes Verhalten könnte eine Repressalie in Form einer Entlassung zur Folge haben, revidiert er seine Aussagen umgehend: „Ich beschwöre Sie, Teurer, Goldner! – Ersticken Sie diese Gedanken! Ich will mir ja alles gefallen lassen.“ (S.70, Z.11 ff.)
Dieser Euphemismus zeigt einmal mehr, dass es sich der Hofmarschall bewusst zur Aufgabe gemacht hat, dem Präsidenten zu imponieren und zu schmeicheln. Analog hierzu will er sich ihm aber unterordnen, da Kalbs Reaktionen und sein Verhalten im Falle derartige euphemistischer Aussagen nahezu als unangemessene Anbiederung gewertet werden kann. Ungeachtet aller Hürden gelangt der Präsident letztlich an das anvisierte Ziel, und der Hofmarschall von Kalb wird durch die Signatur eines Liebesbriefes an Louise für erneute Spannungen und Hürden in der angreifbaren Beziehung der Beiden sorgen.
Die Konversation erfolgt zwischen dem Präsidenten und Hofmarschall von Kalb.
Zu Beginn des Gesprächs versucht Hofmarschall von Kalb den Präsidenten davon zu überzeugen, die große Opera Dido zu besuchen. Dieser nimmt jenes unlängst unterbreitete Angebot kaum wahr und lenkt die Gesprächsthematik mit vollstem Bewusstsein in eine andere Richtung. Diesem „Entschluss“ fügt sich der Hofmarschall und von nun an hat der Präsident einstweilen die Gesprächsmacht inne. Aufgrund jener Feststelllungen ist – bis auf rare Textstellen, in denen Fragen aufeinander folgen, eine klare Asymmetrie in der Kommunikation zu eruieren. Die Status der partizipierenden Gesprächsteilnehmer geben bereits Aufschluss über die Machtverhältnisse im Dialog.
Als Präsident, dessen Sprache komplex und elaboriert ist, während sich Kalb im ersten Drittel auf kurze Fragen und Antworten beschränkt, ist er augenscheinlich die dominierende Gewalt in der Konversation. Grundlage für das Gespräch ist die geplante Intrige seitens Wurms und des Präsidenten, die nun auf die Mithilfe des Hofmarschalls hoffen, folglich visiert der Präsident ein klares Ziel an und verfolgt dies stets zielstrebig, was sich auch in seiner sehr rationalen und bedachten Sprechweise äußert.
Doch als der Präsident von Kalb über die Tatsache in Kenntnis setzt, dass der Herzog von Bok um Lady Milfords Hand anhalten wird, wird ein – für die Szene substanzieller Impuls gesetzt, welcher einen enormen Umbruch in der Gesprächsdynamik zur Folge hat. Zwar manifestiert sich weiterhin eine asymmetrische Kommunikation, jedoch konträr zur ursprünglichen Eruierung. Durch seine Entrüstung und sein impulsives Gemüt, provoziert und hervorgerufen durch die Aussage des Präsidenten, steigt die Repliken Anzahl des Hofmarschalls erheblich, ferner werden diese sukzessive auch weitaus komplexer und umfangreicher. Nebstdem bedient sich der Präsident gewisser Gesprächsstrategien, so nutzt er die augenscheinliche Irritation und Naivität Kalbs zu seinen Gunsten (vgl. S.70, Z.9f.)
Darüber hinaus bedient sich Schiller an geeigneter Stelle der Stichomythie (vgl. S.69 Z.8 – 24) Dieser unterstreicht die ausgesprochen rege Gesprächsdynamik der beiden Figuren, sowie Kalbs Unvermögen, den Feststellungen und Aussagen des Präsidenten zu folgen.
Erfolgt nun eine kontextuelle Einordnung in den Gesamtzusammenhang, so hat auch diese Szene eine zentrale Stellung inne, welche vielerorts zum Tragen kommt.
Analog zur zeitgeschichtlichen Entwicklung – eine Entwicklung, in welcher Aufklärung und Emotion in den Konflikt geraten – besteht auch hier die Evidenz einer deutlichen Kritik am Adel, seiner Willkür, die – durch Intrigen entstehende – Perfidie und der daraus resultierende Machtmissbrauch. Wie eingangs bereits in Grundzügen skizziert, ist die Intrige ein zentrales Motiv des Dramas und ist hier vielerorts sogar die primäre Gesprächsgrundlage. Sowohl der Präsident als auch Hofmarschall von Kalb legitimieren ihr unmoralisches Verhalten durch den Stand, dem sie entspringen.
Hierbei geht kein Akt der Reflexion oder gar der Reue vonstatten, da für sie die unbefleckte Reputation, sowie das persönliche Wohlbefinden stärker ins Gewicht fallen, als der Bund zweier Liebenden.
Zum Nachlesen
Vollständiger Text (PDF, Webversion)
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Autor
Can Y.
Gymnasium, Bayern – Klasse 10