In Gellerts Fabel wird von einem Bären erzählt, der der Gefangenschaft entfliehen konnte, von den Genossen freudig aufgenommen wird, seine Erlebnisse erzählt und bei dieser Gelegenheit zufällig zu tanzen beginnt (Z.10) – er erzählt mimisch anschaulich. Damit liegt die Exposition des Geschehens vor.
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Das eigentliche Geschehen beginnt, als die anderen Bären sein Können bewundern und versuchen, so wie der heimgekehrte Bär zu tanzen, was sie aber nicht schaffen. Da lässt sich der Tanzbär „sehn“ (Z. 19) angesichts ihrer Unfähigkeit, aufrecht zu tanzen; damit stellt der Erzähler indirekt die Frage, die zu entscheiden ist: Was soll man (hier: der Tanzbär) tun, wenn man etwas deutlich besser als die anderen kann?
Die Bären reagieren mit Unmut auf die Demonstration seiner Überlegenheit und jagen ihn fort; durch seinen Misserfolg wird die Frage entschieden: Man soll nicht mit seinem Können prahlen. Der Erzähler nennt zwar des Bären Können „Kunst“ (Z. 20) und bezeichnet die Bären abwertend als schreienden „ganzen Haufen“; aber dieser Haufen bildet die heimatlich-brüderliche Genossenschaft des Bären (Z. 3-6). Sie fordern ihn auf, das Lebensgesetz des Durchschnitts anzuerkennen, bzw. verjagen ihn, da er sich dem nicht beugt.
In dem abschließenden Kommentar spricht der Erzähler seinen Hörer mit „du“ an, womit niemand spezifisch gemeint ist, sodass der Autor damit jeden Leser erreichen kann, der unter Menschen als seinesgleichen leben will. Mit den Mahnungen zieht der Erzähler das Fazit aus seiner Geschichte: „Sei nicht geschickt“ (Z. 24) und „nimm dich in acht, dich prahlend sehn zu lassen” (Z. 27); zwischen diesen beiden Forderung besteht eine Spannung – nur die letztere entspricht exakt dem Verlauf des Geschehens, da hier die zweifache Reaktion der Genossen (zunächst Anerkennung – „bald“ darauf Kritik) aufgenommen wird. Man wird also die erste Mahnung im Sinn der zweiten lesen müssen: Dem Ruhm folgt schnell der Neid (Z. 29 f.).
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Lessings Fabel trägt den gleichen Titel wie die Gellerts, und man wird annehmen dürfen, dass sie in Kenntnis der ersten geschrieben worden ist; denn die Ausgangssituation ähnelt der von Gellerts Fabel (Entlaufener Tanzbär kehrt heim, Z. 1 f.). Doch ist sie nicht nur knapper erzählt, sondern es wird auch zugleich das Geschehen verändert: Der Tanzbär beginnt von sich aus, den Tanz vorzuführen. Der Erzähler bezeichnet den Tanz als „Meisterstück“ (Z. 3), wobei aufgrund der ungewöhnlichen Umstellung des Attributs „gewohnt“ (bei „Hinterfüßen“, es gehört zu „Meisterstück“: Enallage oder Hypallage, s. Ivo Braak!) zunächst nicht auffällt, dass diese Wertung eigent-lich an die Sicht des Tanzbären gebunden ist, vom Erzähler also mög-licherweise ironisch zitiert wird. Dass der Erzähler dem Tanzbären gegenüber Distanz wahrt, erkennt man am Verb „schrie“ (Z. 5), mit dem er die Eigenreklame des Tanzbären abwertend bezeichnet. Dieser nennt seine Aufführung „Kunst“ (Z. 5), was dem „Meisterstück“ (Z. 3) entspricht; er grenzt den Bereich seines früheren Wirkens, die (große) „Welt“ (Z. 5), gegen den „Wald“ (Z. 2) als Bärenort ab. Die Aufforderung „Tut es mir nach“ (Z. 6) ist aufgrund der beiden folgenden Einschränkungen eine Provokation; mit der ersten („wenn‘s euch gefällt“, Z. 6) wird der Kunstverstand der Wald-Bären, mit der zweiten ihr technisches Können bezweifelt. Er redet von sich aus so, ehe er es unternommen hat, überhaupt mit ihnen ein Wort zu sprechen. Durch diese erzählerische Raffung des Geschehens wird der Bär nicht nur als provokant dargestellt. Schlimmer noch: Wiewohl entflohen und in den Wald als Heimat zurückgekehrt, hält er an den Kunst-Normen seiner ehemaligen Welt fest und demonstriert sie, wobei er auf die Gangart der Waldbären hinabblickt. Damit ist die Frage gestellt, ob das wohl richtig sein kann.
Diese Frage wird durch das kluge Wort eines alten, also weisen Bären entschieden; dessen Überlegenheit demonstriert der Erzähler auch durch die Bezeichnung „brummen“ (Z. 7), womit er dem aufdring-lichen Schreien des Tanzbären ein ruhiges Sprechen entgegensetzt. Mit der Aufforderung „Geh“ (Z. 7), die noch an die Vertreibung aus Gellerts Fabel erinnert, gebietet er dem Tanzbären, mit Tanzen und Reden aufzuhören; er entlarvt „dergleichen Kunst“ (Z. 8, „dergleichen“ wertet ab!) als Ausdruck eines Sklavengeistes (Z. 10), ohne ihre Brillanz ausdrücklich zu bezweifeln (Konzessionen: „schwer“ und „rar“, Z. 8 f.). Dem alten Bären wird nicht widersprochen, sein Wort ist das letzte der Fabel: Es ist damit nach dem Willen des Erzählers wahr.
Im Kommentar bezieht der Erzähler diese Entscheidung auf die Möglichkeit einer beruflichen Karriere an den Höfen zu Lessings Zeit: „Ein großer Hofmann sein“ (Z. 11, 16), wobei er durch die Wiederholung dieser Wendung und die negative Wertung höfischen Verhaltens („Schmeichelei, List, Kabalen, Komplimente“ an Stelle von „Witz und Tugend“) zu erkennen gibt, dass er „groß“ ironisch meint. Deshalb ist die Schlussfrage nur rhetorisch offen: Man kann nicht guten Gewissens Hofmann sein. Der Kommentar geht in seinem Zeitbezug und vor allem mit der moralischen Wertung des Hoflebens über das hinaus, was die Erzählung als Lehre hergibt.
In Lessing s Fabel tritt die gleiche Figur wie in Gellerts Fabel auf, aber sie handelt anders, und das wirft eine andere Frage auf. An die Stelle des Gegensatzes von Können und Durchschnitt tritt der von Wald und Welt. Im Kommentar Lessings (oder des Erzählers?) wird die „Welt“ des Tanzbären als die Welt der Fürstenhöfe identifiziert, das Leben dort aus bürgerlichem Freiheitssinn und bürgerlicher Moral kritisiert.

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Der Tanzbär – Vergleich der Fabeln
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