Bei den beiden im Folgenden vergleichend untersuchten und motivverwandten Gedichten Zwielicht und Die Dämmerung, welche der Epoche der Spätromantik bzw. des Expressionismus angehören, ist bereits beim erstmaligen Lesen ein Spannungsverhältnis bemerkbar, dessen Ursachen nachfolgend aufgezeigt werden.

Wie bereits erwähnt gleichen sich die Gedicht in ihrem Motiv, was schon aus den Titeln hervorgeht. Sowohl das Wort Zwielicht wie auch Dämmerung beschreiben die kurze Zeit des Übergleitens vor Sonnenauf- bzw. nach Sonnenuntergang zur Nacht, wobei die Übertragung auf die metaphysische Ebene bei beiden Dichtern gedeutet werden kann. Unklarheit in geistigen oder seelischen Zuständen, Uneindeutigkeit der Wirklichkeit, Unheimliches, nicht der Normalität Entsprechendes und Unsicherheit in der Wahrnehmung sind alles Umschreibungen die mit den Begriffen Dämmerung/Zwielicht verbunden werden können. Unterschiede zeigen sich hingegen in der weiteren Ausdeutung. Das historisch ältere Gedicht Eichendorffs bedient ganz offensichtlich die romantischen, gefühlsseligen und stimmungsgeladenen Klischees der Romantik. Zum Beispiel Zeile 3 in der “Wolken [wie] schwere Träume” ziehn, was ein typisches Bild der Melancholie darstellt und, Zeile 5 in der ein “Reh” lieb gehabt wird, was seit jeher das Bild eines Geliebten verkörpert – schutzlos und stets gefährdet durch den “Jäger” (Z. 7). Oder Zeile 14 in der der Morgen die Angst beendet, welche Nacht und Dämmerung schufen, um nur einige zu nennen. Man kann also feststellen das Eichendorffs Naturbilder bedeutsame Formeln tragen, welche über menschliche Gefühle und Zustände, wie die genannte Melancholie, Liebe und Angst, sprechen. Ganz anders hingegen Lichtenstein. Seine expressionistische Herangehensweise an das Dämmerungsmotiv ergibt quasi eine Parodie auf die romantische Darstellungsform Eichendorffs. Absichtlich schafft er Bilder, die unharmonisch und abstoßend wirken um alles romantisch-atmosphärische (Assoziation ausgelöst durch den Titel) zu zerstören. Wie beispielsweise Zeile 1 “ein dicker Junge”. Zum Vergleich: Hätte Lichtenstein ein romantisches Gedicht verfassen wollen, hätte zum Beispiel ein “zartes Mädchen” mit dem Teich spielen müssen. Er distanziert sich also gänzlich von, bis dahin durch die Romantik geprägten, typischen Vorstellungen.

Bezüglich des Aufbaus erkenne ich kaum Gemeinsamkeiten. Eichendorff gliedert sein Gedicht in eine Art Ablauf. Er steigt ein mit einer situativen Beschreibung, unmittelbar gefolgt von der daraus resultierenden Frage nach der Bedeutung für den Beobachter. Es folgend zweierlei Antworten, welche mit einem Resümee geschlossen werden. Zwielicht ist also recht komplex und zeigt ganz bewusst und ohne viel Nachdenken mehrere Ebenen auf denen es sich bewegt. Lichtenstein hingegen verbleibt bei der situativen Beschreibung. Er verzichtet gänzlich auf Deutung, Hinterfragung, Schlussfolgerung oder Einbeziehung des Lesers. Ihm kommt es einzig darauf an, dass sein Gedicht wirkt. Aus dieser Intention ergibt sich fast als logische Konsequenz der sofort auffällige Zeilenstil und die simultanen Abläufe ohne Beziehung zueinander. Punktuelle Eindrücke ohne inhaltliche Gliederung (wie sie bei Eichendorff zu finden ist) verhindern eine Entwicklung der Handlung. Die stereotypen Satzbilder (Subjekt – Prädikat – Objekt) könnten im gleichen Stil fortgesetzt werden, da sich kein Abschluss findet. “Grotesk” ist hier die treffendste Beschreibung, sowohl inhaltlich wie auch den Aufbau betreffend.

Unter lyrischem Aspekt betrachtet weisen die Gedichte ungewöhnlich viele Gemeinsamkeiten auf. Beide Dichter folgen klassischen lyrischen Formen in Rhythmus (nur weibliche Kadenzen bzw. alternierende Kadenzen), Metrik (Trochäus bzw. Jambus) und Reimschema (umarmender Reim bzw. Kreuzreim). Eichendorff benutzt diese Mittel schlicht, da sie in der Romantik üblich waren (Volksliedstrophe) variiert sie jedoch, auch typischerweise, hoch anspruchsvoll. Lichtenstein hingegen steht mit seiner traditionellen Form im Kontrast zum Inhalt, was wiederum ein bewusstes und gern verwendetes Mittel des Expressionismus war. Der einzige Unterschied den lyrischen Aspekt betreffend besteht darin, dass Eichendorff fast durchgängig Enjambements verwendet, Lichtensteins Verse groß mehrheitlich unverbunden bleiben (Zeilenstil).

Das lyrische Ich in Zwielicht nimmt seine Welt sehr konkret und kritisch wahr. Es beginnt die Dinge in Beziehung zueinander zu setzen und Zusammenhänge zu erkennen, was, wie ich später noch erläutern werde, gut in das Weltbild der Spätromantik passt. Mehr noch, wird es sogar apellativ dem Leser und sich selbst gegenüber, ist also sehr direkt in seiner Intention und Aussage, benutzt jedoch Naturbilder als Methaphern für die Wirklichkeit. Die Dämmerung dagegen kann wenig hiervon aufweisen, was schon allein durch das Fehlen eines lyrischen Ichs auffällt. Außerdem bedient sich der Dichter einer Großstadtszenerie zur Darstellung der Wirklichkeit, die als Chaos ohne erkennbaren Sinn gezeigt wird. Auch Methaphern finden wir hier nicht, sondern eher viele zusammenhanglose Momentaufnahmen/Fotos, die hier und da negativ verzerrt wurden (zum Beispiel “Auf lange Krücken schief herabgebückt/Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.” – man stelle sich vor Lichtenstein hat diese Männer mit Krücken wirklich beobachtet, verleiht ihnen hier aber eine groteske Konnotation, als hätte er sie in seiner Phantasie als Inspiration für ein surrealistisch Bild verwendet). Wir erkennen also, dass es hier keinen normalen Blick mehr auf das Alltägliche gibt. Hier ist alles quasi genau umgekehrt aber auch kreuz und quer und nichts ist mehr so wie man es kennt. So werden zum Beispiel Dinge personifiziert (“Himmel sieht verbummelt aus, als wäre ihm die Schminke ausgegangen” Z. 3-4) und Menschen werden verdinglicht (“Kinderwagen schreit” Z. 12).

Da die beiden Gedichte aus, wie sich zeigen soll, nicht unähnlichen Epochen stammen wird klar, dass sie in diesem Kontext ein paar Gemeinsamkeiten aufweisen können. Auffällig ist vor allem die düstere Stimmung, die beiden Gedichten inne wohnt. Wenn wir die Autoren betrachten zeigt sich, dass beide zum Zeitpunkt des Erscheinens ihres Gedichts 24 Jahre alt waren. Ein Alter in dem die meisten Menschen, sich eingehend mit ihrer Umwelt auseinander setzen, neugierig, offen und enthusiastisch sind, möglicherweise etwas bewegen oder aufzeigen wollen. Das denke ich haben beide Schriftsteller gemeinsam. Sie wollen ihre Gedanken und Eindrücke mitteilen. Eichendorff schwankt zwischen Nacht und Tag, Sinnlichkeit und Vernunft, Romantik und Aufklärung (also Spätromantik: Übergang von Romantik zur Aufklärung). Ihm wird also klar das, das verklärte Weltbild der Romantik Gefahren birgt (z. B. kann Vertrauen bzw. Naivität ausgenutzt werden), das Nüchterne der Aufklärung jedoch ebenso (z. B. Verlust der Sinnlichkeit). Lichtenstein hingegen nimmt die Welt als Opfer der Industrialisierung wahr. Die Menschen und Dinge verlieren die Orientierung, da alles viel zu schnell geht und zu groß und zu anonym wird. Da wird es schwierig Halt zu finden und den Überblick zu behalten. Hieraus ergibt sich ein bizarres Bild, welches, wie auch die Dämmerung selbst, ein ungutes Gefühl vermittelt. Eichendorff sowie Lichtenstein sind also scharfe Beobachter, wobei Zwielicht bereits die Aussage über den Zeitgeist trifft, diese sich in Die Dämmerung erst aus dem Kontext bzw. “zwischen den Zeilen” ergibt.

Thematisch behandelt Zwielicht, nach vorangegangener Untersuchung, eine Bedrohung des romantischen Weltbildes durch das aufklärerische. Aber auch und vor allem, was dies für das konkrete Leben des Einzelnen bedeutet. Die Dämmerung kommt dem im Grundgedanken sehr nahe, nur das die Bedrohung nicht vom aufklärerischen Zeitgeist ausgeht, sondern von einer nicht mehr beherrschten Entwicklung von Technik, Wirtschaft und Politik und was dies, wie bei Eichendorff, für die Individuen der Gesellschaft bedeutet. Diese Entwicklung hat die Welt und das Leben in ihr verändert, ganz genau so wie Eichendorff feststellt, dass man plötzlich dem guten Freund nicht mehr trauen kann und sich um die Treue der Geliebten sorgen muss, was zuvor völlig außer Frage stand; einst unstrittige Ideale waren (zu Hochzeiten der Romantik). Der Unterschied liegt hier, des Weiteren in dem Gedanken den die Gedichte übrig lassen. Eichendorff sieht zwar ebenso wie Lichtenstein die Veränderung und die daraus resultierende Bedrohung, doch bewerte er sie sowohl positiv wie auch negativ – sieht Vor- und Nachteile was deutlich in der letzten Strophe zu spüren ist. Lichtenstein hingegen bewertet die Entwicklung gar nicht, allerhöchstens resigniert oder gleichgültig – was villeicht sogar schon wieder zu viel Wertung wäre. Denn beliest man sich ein wenig, stellt man fest, dass er einfach nur Dinge zeigen wollte wie er sie wahrnahm – ganz bewusst ohne Reflexion.

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Gedichtvergleich – Joseph von Eichendorffs Zwielicht und Alfred Lichtensteins Die Dämmerung
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