Aufgabe siehe auch Der Vorleser-Interpretation 1:

“Es gibt keine Strafe, die hart genug würde, bei diesen Nazi-Bestien angewendet zu werden. Natürlich müssen bei der Vergeltung auch wieder die Unschuldigen mitleiden. 99% der deutschen Bevölkerung tragen mittelbar oder unmittelbar die Schuld an den heutigen Zuständen. Deshalb kann es nur heißen: ‘Mitgegangen – mitgehangen’.”
– Friedrich Kellner, Tagebucheintrag, 28. Oktober 1941

Bernhard Schlinks Roman “Der Vorleser” thematisiert die Frage nach Verantwortung und Schuld aus unterschiedlichen Perspektiven und Gesichtspunkten.

Das zwölfte Kapitel des zweiten Teils (S. 134-139) spielt dabei eine besondere Rolle. Es beschreibt ein philosophisches Gespräch zwischen dem Protagonisten Michael Berg und dessen Vater.

Zum Vorfeld dieser Szene ist Folgendes zu sagen: Michael besucht im Rahmen seiner Seminargruppe, die sich die Aufarbeitung der Kollektivschuld des zweiten Weltkriegs zur Aufgabe gemacht hat, eine Gerichtsverhandlung. Dort sieht er Hanna Schmitz unter den Angeklagten sitzen. Hanna war Michaels erste Liebesbeziehung, wobei sie 18 Jahre älter ist als er. Michael erfuhr jedoch nie etwas über Hannas Vergangenheit. Als er Hanna nun im Gerichtssaal wieder trifft, keimen allerlei Schuldfragen in ihm auf, auf die ich jedoch später eingehen werde. Eines Tages stellt Michael fest, dass Hanna Analphabetin ist und sie alle Schuld auf sich nimmt, nur um dieses Geheimnis für sich behalten zu können. Besonders deutlich wird das, als sie zugibt, einen Bericht geschrieben zu haben, der ihre Schuld belegt (was sie ja als Analphabetin gar nicht getan haben kann). Michael bekommt nun Gewissensbisse und weiß nicht, ob er über Hanna hinweg mit dem Richter reden soll. Aus diesem Anlass sucht er seinen Vater auf, der unter anderem Professor für Philosophie ist.

Auf den mir vorliegenden Seiten wird dieses Gespräch nun beschrieben. Auf den ersten beiden Seiten erklärt Michael, wie er seinen Vater aufsucht und warum er es tut. Man erhält einen kleinen Einblick in das Verhältnis zwischen den beiden. Er spricht von einer gewissen Distanz und davon, dass genau diese Distanz der Grund ist, warum er seinen Vater um Hilfe bittet. Beispiele für ein solches Verhältnis finden sich unter anderem im dritten Absatz (“Wenn wir Kinder unseren Vater sprechen wollten, gab er uns Termine wie seinen Studenten”, S. 134 Z. 19-20). Auf Seite 135 schweift Michael ein wenig ab und berichtet über die Arbeitszimmer seines Vaters. Am Ende dieser Seite beginnt das Gespräch. Michael stellt seinem Vater das Problem vor, worauf dieser sehr weit ausholt, um seine Meinung darzulegen. Er begründet diese auf Freiheit und Würde und besonders auf einer These “über den Menschen als Subjekt und darüber, dass man ihn nicht zum Objekt machen dürfe” (S.136 Z. 8-11). Michaels Gegenargument, dass dieses Über-Jemanden-Hinweg-Handeln demjenigen am Ende mehr Glück bringen würde, schlägt sein Vater damit aus, dass es eben keine Frage des Glücks, sondern eine Frage der Freiheit ist. Michael ist daraufhin erleichtert, dass er nicht handeln muss bzw. gar nicht darf. Als er das jedoch zur Sprache bringt, weist sein Vater ihn jedoch auf die dritte und einzig richtige Möglichkeit hin: “[…] man muss mit ihm reden, mit ihm, nicht hinter seinem Rücken mit jemand anderem” (S. 138 Z. 1-3). Michael hegt jedoch Zweifel, ob und wie er Hanna gegenübertreten solle, und als er seinen Vater danach fragt, weiß dieser auch keine Antwort. Der Abschluss des Dialogs belegt noch einmal das distanzierte Verhältnis zwischen den beiden. Am Ende meint Michaels Vater, dass er jederzeit wiederkommen könne, worauf dieser erzählt: “Ich glaubte ihm nicht und nickte” (S. 139 Z. 13).

Der gesamte Roman ist aus der sich eines auktorialen Ich-Erzählers geschrieben. Die zentrale Erzähltechnik ist der innere Monolog. Dabei wird (besonders in dem hier beschriebenen Auszug) natürlich auch die direkte Rede verwendet. Es werden sowohl Parataxen als auch Hypotaxen verwendet, aber keine der beiden Satzstrukturen in auffällig häufigem Maße. Der Sprachstil wirkt jedoch sehr gehoben, da oft Einschübe gemacht werden, die man im mündlichen Sprachgebrauch nur sehr selten verwenden würde.

Dieser Romanauszug thematisiert nun die Schuldfrage in ganz besonderem Maße. Doch wie schon erwähnt, gibt es noch einige andere Stellen, an denen diese ebenfalls und auch aus anderer Perspektive aufkommt.

Die erste wichtige Stelle ist auf S. 129 zu finden. Dort sieht Michael sich in der Schuld Hanna vor seinen Freunden verleugnet und sie damit verraten zu haben. Da er nun im Nachhinein weiß, dass Hanna eine NS-Verbrecherin ist, meint er, sich damit retten zu können, dass der Verrat an einem Verbrecher keine Schuld hervorruft. Das stößt ihn jedoch auf das Problem, dass er dadurch schuldig wäre, eine Verbrecherin geliebt zu haben.

Der nächste Abschnitt, in dem Michaels Schuld diskutiert wird, ist der hier bearbeitete, in dem Michael seinen Vater aufsucht. Hier glaubt Michael sich also unschuldig, da sein Vater sagt, man dürfe jemandem nicht hinter seinem Rücken helfen, da dies seine Würde verletzt. In einer letzten bedeutenden Szene (S. 161-163) geht es um die Kollektivschuld der Deutschen im zweiten Weltkrieg. Die Aufarbeitung durch seine Seminargruppe führte dazu, dass die gesamte Gruppe die Generation ihrer Eltern verurteilte. Auf diesen Seiten jedoch stellt Michael fest, dass er seine Eltern nicht verurteilen kann und eigentlich auch sonst niemanden so pauschal, wie er es bis dahin getan hatte. Die einzige Person die er hätte verurteilen müssen, ist die, die er nicht verurteilt hat: Hanna. Dabei stellt er wiederum fest, dass er, wenn Hanna für schuldig erklärt, selbst Schuld trägt, da er sie geliebt hatte.

Ich denke, dass Michael fast immer im Unrecht liegt. Zunächst spielt es keine Rolle, wer das Objekt einer moralisch verwerflichen Handlung ist. Man trägt immer Schuld, egal ob man einen Verbrecher verrät, oder jemanden der sich nichts zu Schulden hat kommen lassen. Diese These würde ich darauf begründen, dass ein jeder Mensch (auch ein Verbrecher) eine gewisse Würde hat, die selbst unter den Umständen einer Bestrafung nicht verletzt werden darf.

Genauso liegt kein Verbrechen darin, einen Verbrecher zu lieben oder zu hassen, ebenso wenig wie es ein Verbrechen ist, diese Gefühle gegenüber irgendeinem anderen Menschen zu hegen. Gefühle sind zum einen keine Bestimmung aus freiem Willen heraus, was die Voraussetzung bilden würde, um überhaupt Verantwortung und damit Schuld tragen zu können. Zum anderen kommt es nicht auf die Schuld eines Menschen an, ob er liebenswert ist oder nicht. Man kann ihn zwar für diese Verbrechen verurteilen, aber ihn dennoch akzeptieren.

Auch Michaels Glauben, sich von jeglicher Schuld losgesagt zu haben, indem er den philosophischen Ratschlag seines Vaters befolgt, ist nicht richtig. Es wäre zwar genauso falsch gewesen, Hanna hinter ihrem Rücken zu helfen, aber Michael macht es sich zu leicht. Er übergeht die (einzig richtige) Möglichkeit, direkt mit ihr zu reden, und ebendiese Feigheit ist seine eigentliche Schuld.

Zur Frage nach der Kollektivschuld würde ich gern auf das Zitat von Friedrich Kellner, welches sich bereits im Untertitel befindet hinweisen. Diese Aussage wurde im Gegensatz zu Michaels Meinung nicht im Rahmen einer Aufarbeitung, sondern direkt von einem Zeitgenossen gemacht. Auch er ist der Meinung, dass jeder seine eigene Schuld trägt, der nichts gegen die Missstände tut, die vorherrschen. Um noch ein allgemeines Beispiel anzuführen (das sich nicht auf das NS-Regime bezieht) möchte ich hier noch folgenden Satz aus der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zitieren:

“Wenn aber eine lange Reihe von Misshandlungen und gewaltsamen Eingriffen auf einen und eben den Gegenstand unablässig gerichtet, einen Anschlag an den Tag legt, sie unter unumschränkte Herrschaft zu bringen, so ist es ihr [das der Gesellschaft] Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen, und sich für ihre künftige Sicherheit neue Gewähren zu verschaffen.”

Beide Texte beschreiben also eine Pflicht für das Volk, unmenschliche Zustände und Leid von höherer Gewalt unter allen Umständen abzuschaffen. Wer dieser Pflicht nicht nachkommt, macht sich also schuldig. Denn nicht Handeln macht schuldig, sondern die Bestimmung des Willens, also eine selbst getroffene Entscheidung. So resultiert nicht nur Handeln, sondern auch unterlassenes Handeln in einer Schuld.

Es ist also klar, dass jeder, der nichts gegen die Missstände unternommen hat, sich schuldig gemacht hat. Und doch bezweifle ich, dass wir diese Generation verurteilen dürfen. Stellen wir uns einmal vor, wir selbst befänden uns in einer derartigen Diktatur und sähen, was mit jenen geschieht, die sich gegen dieses Regime auflehnen. Würden wir uns zur Wehr setzen? Ich glaube nicht. Das Urteil über andere ist leicht gesprochen, doch wenn man unter gleichen Umständen selbst dieses Verbrechen beginge, so ist man meiner Meinung nach nicht im Recht, dieses zu fällen. Verurteilen dürfen wir nur jene, die sich aktiv am Nationalsozialismus beteiligt haben, auch wenn sie alle schuldig sind.

Interpretation über Michael, Vater, Hanna auch Erörterung ist ein buch von Bernhard Schlink das Thema Schuld, enthält Charakterisierung

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2. Der Vorleser – Interpretation
Wissen verdoppelt sich, wenn man es teilt.
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