In dem Gedicht „Heidenröslein“ von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahre 1771 geht es darum, wie ein Knabe aufgrund seiner Begierde ein Röslein, das metaphorisch für ein junges Mädchen steht, gewaltsam erobert. Es ist in die Epoche Sturm und Drang einzuordnen. Die Grundsätze dieser Zeit, wie Leidenschaft, Selbstentfaltung und das Ausbrechen aus vorgegebenen Denkmustern der Gesellschaft, sind in dem lyrischen Text an dem unvernünftigen, stürmischen Handeln des Jungen und der gewagten Thematik zu erkennen.
Formal betrachtet hat das Gedicht drei Strophen zu je sieben Versen, eine Liedform mit einem Refrain, und einen Zeilenstil mit einem einzigen Enjambement. Das Metrum ist ein vierhebiger Trochäus und die Sprache schlicht. Die Versausgänge bestehen wechselnd aus männlichen und weiblichen Kadenzen, was gut dazu passt, dass es von einem jungen Mann und einer jungen Frau handelt.
Gleich im ersten Vers werden die beiden Protagonisten genannt, „Knab“ und „Röslein“, diesen Bezeichnungen nach ist zu vermuten, dass beide noch sehr jung sind, bei der Rose lässt sich durch die Verniedlichungsform und ihre Beschreibung als „jung“ (V. 3) darauf schließen.
Die erste Strophe beschreibt wie der Junge die Rose entdeckt und beginnt sie zu begehren. Schon die Adjektive „so jung und morgenschön“ in Vers drei deuten darauf hin, dass das Röslein für eine junge Frau steht. Denn diese Wörter klingen eher menschlich. Spätestens wenn es in Vers zehn redet „Röslein sprach:“ und damit personifiziert wird, bestätigt sich die Vermutung dieser Metaphorik.
In dem Refrain am Ende jeder Strophe, wird das Röslein als „rot“ (V. 6) betitelt. Die Farbe Rot ist eine Signalfarbe und kann Liebe, Hass, Gewalt und Blut symbolisieren. Damit passt diese perfekt zum Thema. Genauso die Blumenart Rose, da Rosen, speziell rote Rosen, ein Symbol von Liebenden sind und außerdem haben sie Dornen, was wieder auf das Gewalttätige verweist. Die symbolische Bedeutung der Farbe Rot wandelt sich von Abschnitt zu Abschnitt. Zuerst kann mit ihr die Liebe des Knaben verdeutlicht werden. Danach taucht die Gewalt auf. Denn er will die Rose gewaltsam erobern und sie will sich gewaltsam wehren. Als letztes könnte das Rot für ihr und sein Blut stehen, weil er sie gebrochen und sie ihn gestochen hat.
Die zweite Strophe enthält den Dialog des Knaben und der Rose, indem die in der dritten Strophe eintretende Aktion und Reaktion thematisiert wird. Die Strophen sind auf gewisse Weise parallel zueinander, da das was zuerst in der wörtlichen Rede im Präsens steht, dann im Präteritum ist, z.B. „breche“ zu „brach“ und „steche“ zu „stach“. Dass der einzige Enjambement (V.15/16) ausgerechnet an der Stelle ist, an der das Röslein letztendlich gebrochen wird, betont die Brutalität der Handlung.
Für eine tiefere Deutung des Gedichtes gibt es verschiedene Ansätze. Zum einen könnte es sich um die Eroberung eines Mädchens und das anschließende Fallenlassen handeln, dann würde das „ich breche dich“ metaphorisch das Brechen des Mädchenherzens bedeuten. In diesen Interpretationsansatz stellt sich allerdings die Frage, inwiefern es sich wehrt. Das zweifach erwähnte „leiden“ (V. 12,19) wäre als Liebeskummer und Herzschmerz zu verstehen.
Der plausibler zu belegende, aber ethisch verwerflichere Ansatz wäre, dass es sich um die Vergewaltigung eines jungen, unschuldigen Mädchens handelt. Das würde gut zu der stürmischen Begierde des Jungen passen, mit der Bezeichnung „wilder Knabe“ (V. 15) wird er als jung, unerzogen und unvernünftig charakterisiert. Das Brechen wäre in diesem Fall der sexuelle Gewaltakt, gegen den das Mädchen gewaltsam, aber vergeblich „Half ihm doch kein Weh und Ach“ (V. 18) Widerstand leistet. „Leiden“ kann in diesem Fall sowohl körperlich als auch seelisch gemeint sein. Das Verlieren der Unschuld vor der Ehe war in dieser Zeit moralisch sehr schlecht angesehen, die Seele war sozusagen beschmutzt. Eine, auch noch so brutale, Tat hätte sicher tiefe Wunden zur Folge gehabt. Es kann mit „brechen“ das Brechen des Willens und auch das Zerstören des Seelenfriedens gemeint sein. Bei dieser Interpretation könnte man es als sehr anmaßend sehen, ein so schreckliches Verbrechen bildlich auf eine Blume zu übertragen, da das verharmlosend wirken könnte.
Ein Versuch das Gedicht positiv zu bewerten, wäre die Vermutung, dass Goethe es geschrieben hat, um auf die Grausamkeit eines solchen Verbrechens hinzuweisen und seine Darstellung metaphorisch verschleiert hat, da dies in der Gesellschaft ein Tabu-Thema war.
Ansonsten könnte es sein, dass Goethe in diesem lyrischen Text seine Beziehung zu Friederike Brion zum Ausdruck bringt. Man könnte auf diese Idee kommen, weil diese Beziehung zu der gleichen Zeit war wie das Gedicht. Das würde wieder zu dem ersten Deutungsansatz zurückführen, da der junge, leidenschaftliche Goethe ihr Herz gebrochen hat und sie daraufhin nie geheiratet hat.
Abschließend lässt sich sagen, dass dieses Gedicht viel Interpretationsspielraum bietet und viele Fragen offen lässt. Mir fällt es schwer, etwas Positives darüber zu sagen, außer dass Form und Rhetorik gut klingen. Vom Inhalt her ist es meiner Meinung nach nämlich definitiv nicht schön. Wenn man sich der Vergewaltigungstheorie anschließt und in Bezug darauf daran denkt, wie oft Frauen, sehr junge Mädchen oder sogar Jungen heute noch vergewaltigt werden, kann es einem nur mal wieder vor Augen führen wie grauenerregend die Menschheit sein kann.

Note: 14 Punkte

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Gedichtinterpretation “Heidenröslein”
Wissen verdoppelt sich, wenn man es teilt.
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