„[…] Es ist ebenso unmoralisch, Geld von den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben, unter der Voraussetzung, dass die Reichen ihr Geld ehrlich verdient haben. Wieso ist Stehlen moralisch? Und wo ist der Unterschied zwischen Besteuerung und Diebstahl?“

Milton Friedman (Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1976) im Interview mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft vom 23.6.06

Der vor zwei Jahren gestorbene amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Milton Friedman vergleicht im vorliegenden Zitat Besteuerung mit Diebstahl und fordert eine moralische Gleichstellung.

Friedman formuliert geschickt Fragen statt direkte Thesen. Der Inhalt allein ist schon provokativ genug, so kann er wenigstens durch die rogative Formulierung den Eindruck erwecken, den Leser nur zum Nachdenken anregen zu wollen. Das ist ihm in meinem Fall gelungen. Ich habe versucht, einigermaßen unvoreingenommen über das Problem der Legitimität von Steuern nachzudenken und mich dazu entschlossen, Herrn Friedman oder dem, was noch von ihm übrig ist – Friede sei mit ihm – ein paar Gegenfragen zu stellen:

Wie soll der Staat einer seiner wichtigsten Aufgaben, der Friedenssicherung im eigenen Land, nachkommen, wenn die Gesellschaft mangels fiskalischer Umverteilung immer weiter auseinanderdriftet, polarisiert und schließlich nicht mehr als eine Gesellschaft betrachtet werden kann? Wie soll der soziale Absturz, die Desozialisierung eines Arbeitslosen verhindert werden, wenn dieser nur sich selbst überlassen und ohne einen Cent auf die Straße entlassen wird. Die Vorstellung erscheint mir geradezu absurd: Was bleibt diesem armen Geschöpf, das seine Arbeit und Lebensgrundlage beispielsweise im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen verloren haben könnte, denn anderes übrig, als sich sein Brot auf kriminelle Weise zu beschaffen, wenn der Staat nicht zeitweise für sein Wohl aufkommt und ihn dabei unterstützt, zurück ins Arbeitsleben zu finden?

Wie soll der Bau von Straßen finanziert werden, von Krankenhäusern und einem wehrfähigen Verteidigungsapparat? Wie sollen der freie Zugang zu Bildung, die Förderung der Wissenschaft gewährt werden, mit welchem Geld soll der Staat seine Schulden tilgen? All das in private Hand zu legen erscheint lächerlich, gerade in Hinblick auf die aktuelle Finanzkrise. Ohne Steuern gäbe es keinen Staat, der nach einer der regelmäßig vorkommenden kollektiven ökonomischen Selbstüberschätzungsphasen, auch Wirtschaftskrise genannt, in die Bresche springen und Rundum-sorglos-Pakete von Hunderten Milliarden Euro zur Verfügung stellen kann. Wen könnten Opel, AIG oder Hypo Real Estate anbetteln, wenn nicht den Staat, dessen finanzielle Wirkungsmacht sich aus seinen Steuereinnahmen ergibt?

Abgesehen von diesem egoistischen Friedensstreben – „Ich will sicher sein vor dem Pöbel! Gebt ihm Brot.“ – und den rational-ökonomischen und -gesellschaftlichen Motiven müssen wir uns als Gesellschaft entscheiden, welche Werte uns wichtig sind. Wir in Deutschland haben die Menschenwürde als obersten Grundsatz gewählt, an der Erfüllung dieses Prinzips soll unser Grundgesetz gemessen werden. Ist es eines Menschen würdig, ihn auf der Straße verhungern zu lassen, weil eine neue Maschine produktiver ist? Ist es eines Menschen würdig, ihm bei Minustemperaturen das Dach über dem Kopf zu verwehren? In was für einer Gesellschaft wollen wir leben, in der es noch nicht einmal staatliche Kinderheime gibt, keine Polizei oder Feuerwehr…

Nun gut, vielleicht habe ich Friedman bisher teilweise zu wörtlich genommen. Er wird doch nicht ernsthaft für die Aufhebung aller Steuern plädieren; vermutlich hat er sich nur falsch ausgedrückt. Doch selbst wenn wir nur Leistungen im Rahmen des Sozialstaats kürzten, hätte das, wie oben aufgezeigt, fatale Folgen.

Im Folgenden werde ich Besteuerung und Diebstahl einander direkt gegenüberstellen. Dazu sollen die beide Begriffe kurz definiert werden: Als Steuern bezeichnet man obligatorische Geldabgaben der Bürger an den Staat, damit dieser seine Geschicke „steuern“ kann. Diebstahl heißt nach §127 des Strafgesetzbuches „eine fremde bewegliche Sache einem anderen mit dem Vorsatz [wegzunehmen], sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern“, kurz und grob: die illegale Enteignung von Kapital. Nun ist ja auch die Steuer eine Enteignung von Kapital, der Unterschied ist, dass die Steuer legal ist, der Diebstahl illegal. So platt möchte ich nicht argumentieren, denn Friedman hinterfragt ja genau diesen Zustand, er argumentiert auf einer höheren als der gesetzlichen Ebene, Friedman argumentiert ethisch.

Lassen wir den gesetzlichen status quo also unberücksichtigt, so stellen wir fest, dass es sich sowohl bei Steuern als auch bei Diebstahl um eine Entwendung von Kapital handelt. Wo liegt nun der Unterschied?

Zunächst einmal halte ich es für wichtig, Folgendes festzuhalten: Die in Deutschland bzw. den USA lebenden „Reichen“ scheinen selbst der Ansicht zu sein, genug Gegenleistungen vom Staat zu beziehen. Sie zahlen die hohen Steuern freiwillig, denn sie könnten schließlich auch in eine der vielen „Steueroasen“ ziehen, wo zwar kaum Steuern zu zahlen sind, dafür aber andere Bedingungen unter Umständen schlechter sind. Diese guten Bedingungen stünden bei niedrigeren Steuersätzen vielleicht nicht zur Verfügung. Für Unternehmen hat Deutschland beispielsweise einige Standortvorteile wie zum Beispiel das Know-how und einen breiten Absatzmarkt. Dann ist auch vertretbar, dass die Steuern für Unternehmer in Deutschland höher sind, als in für Unternehmen weniger attraktiven Ländern.

Der große und entscheidende Unterschied zwischen Steuern und Diebstahl allerdings liegt in der Intention. Ein Diebstahl wird begangen, um sich (in seltenen Fällen jemand anderen – das Robin-Hood-Phänomen) zu bereichern, hier setzt sich ein Einzelner oder eine Diebesbande über den Willen des/der Bestohlenen hinweg, vor allem geschieht der Diebstahl im Geheimen. Die Steuererhebung allerdings geschieht erstens auf Wunsch des Großteils der Bevölkerung, zweitens werden die Steuern auch im Interesse der Bevölkerung wieder eingesetzt. Der „Staat“, der die Steuern eintreibt, ist ja nichts anderes als die „Gemein“schaft, der das „Gemein“wohl am Herzen liegt, also das Gemeinsame, Kollektive. Ein Staat ist ein Kollektiv, und als solches mehr als nur Millionen von Individuen. Jedem dieser Individuen obliegt also die Pflicht, an diesem Kollektiv mitzuwirken, es mitzutragen. Dies geschieht immateriell durch Wahrung der Kultur, es wird eine gemeinsame Sprache gesprochen und jeder Teil des Kollektivs pflegt sich als solcher zu bezeichnen, also als „Deutscher“, „Franzose“ oder „Amerikaner“, die Identität eines jeden Individuums ist also an das ihm zugehörige Kollektiv, seine „Heimat“ gekoppelt.

Doch auch materiell muss sich jedes Individuum am Kollektiv beteiligen, um diesem eine Wirkungsmacht zu verleihen, die Macht nämlich, Straßen, Schulen und Krankenhäuser zu bauen oder eben Sozialinstitutionen zur Verfügung zu stellen. Materielle Beteiligung heißt Bereitstellung sachlicher Wertgüter, und als Universalwertgut dient uns das Geld; sprich: ein jeder muss Steuern zahlen, damit das Kollektiv „Staat“ existieren kann.

Diesen Ansatz kann man anfechten durch die These, der Staat sei überflüssig und gehöre abgeschafft oder, milder, lediglich der Sozialstaat, den wir uns 2008 bspw. 124 Mio. Euro, 44% der gesamten Haushaltsausgaben, kosten ließen, sei eine Ungerechtigkeit den Reichen gegenüber. Im Folgenden werde ich gegen diese These argumentieren.

Wir werden ungleich geboren. Der eine ist intelligenter als der andere, die eine hübscher als die andere, ein weiterer Sohn reicher Eltern in einem reichen Land, die nächste Waisenkind in einem armen Land. Das bedeutet, dass wir alle ungleiche Startbedingungen haben, und zwar von Natur aus. Daraus mag man folgern, dass die Natur ungerecht ist – auch der darwinistische Überlebenskampf vermittelt diesen Eindruck – und zumindest in unseren Augen ist dem wohl so; tatsächlich kennt die Natur allerdings keine Gerechtigkeit. Wenn wir die natürliche Konstruktion aufgrund unseres Gerechtigkeitsempfindens als schlecht empfinden, weil wir in unserer humanistischen Tradition gern jedem Menschen gleiche Voraussetzungen bieten würden, so liegt es an unserer Kultur, diese humanistischen Ideen und Ideale zu realisieren, und damit gegen die natürliche Konstruktion vorzugehen.

„Gegen die natürlichen Gegebenheiten“ mag vielleicht radikal klingen, ist jedoch in vielen Bereichen gang und gäbe. Man denke hier an die Medizin, die, als Kulturerrungenschaft, die natürliche Lebenserwartung der Menschen im Laufe der Kulturgeschichte mehr als verdreifacht hat, mit stark steigender Tendenz. Man denke an alle technischen Transportmittel vom Rad bis zum Flugzeug, die den Menschen Strecken zurücklegen ließen und lassen, die er mit seiner beschränkten natürlichen Mobilität niemals bewältigt hätte. Man denke an weitere technische Errungenschaften wie den Blitzableiter, der eine Naturkatastrophe für den Menschen unschädlich macht, oder den Staudamm, der die Gewalten der Natur bändigt und für menschliche Zwecke einsetzbar macht.

Mit unseren kultürlichen Errungenschaften der Natur entgegenzutreten liegt in der „Natur der Kultur“. Es ist nämlich kulturimmanent, zu hinterfragen und Werte zu vertreten, und dementsprechend handeln wir, dementsprechend gestalten wir die Natur nach unseren Vorstellungen.

Dem naturgegebenen und vom Menschen als ungerecht empfundenen Fakt, dass Menschen unterschiedliche Startbedingungen ins Leben vorliegen, ist also mit den Elementen der Kultur entgegenzutreten. Zu diesen Elementen zählt auch der Staat, der ja in der Natur nicht existiert, sondern ein menschliches Abstraktum darstellt, eine Idee des Zusammenschlusses von Individuen zu einem Kollektiv. Demnach hat der Staat die Aufgabe der Umverteilung des materiellen Eigentums; primär, um alles in seiner Macht stehende zu tun, um Menschen einigermaßen gleiche Anfangsbedingungen zu gewährleisten (u.a. Sicherung des Existenzminimums der Familie, Garantierung freier Bildung), und sekundär, um negative Folgen der anfänglichen Dysbalance zu mildern (Sozialsystem).

Als Kulturwesen sollte der Mensch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um dem ihm ebenso zur Verfügung gestellten Gerechtigkeitsempfinden Rechnung zu tragen. Daraus folgt eine Verantwortung der natürlich besser Gestellten gegenüber den natürlich schlechter Gestellten. Auch wenn über den Umfang des Sozialstaats zu diskutieren ist und dieser von Profitierenden nicht zum Anlass genommen werden sollte, die persönliche Leistung zurückzuschrauben(!), ist eine individualistische, sich am Naturzustand des Menschen orientierende Einstellung unmenschlich, weil Moral und Werte – unabdingbare Bestandteile des Menschseins – nicht berücksichtigt werden.

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Anti-Friedman – Der Sinn von Steuern
Wissen verdoppelt sich, wenn man es teilt.
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