Charakterisierung zweier Figuren aus dem Drama „Vor Sonnenaufgang“ von Gerhardt Hauptmann:
In dem naturalistischen Drama von Gerhardt Hauptmann „Vor Sonnenaufgang“ aus dem Jahre 1889, hebt sich eine Figur durch ihren Charakter besonders hervor. Helene passt so gar nicht in die Umgebung und in ihre Familie in der sie nicht aufgewachsen ist. Um ihren Charakter gut beschreiben zu können, werde ich auch Frau Krause charakterisieren, da diese das Gegenstück zu Helene ist.
Helene Krause, Tochter von Bauer Krause und dessen ersten Frau, ist zu der Zeit als das Drama spielt, 21 Jahre alt. Sie lebt auf dem Gutshof ihres Vaters, zusammen mit dessen neuer Frau, nachdem ihre Ausbildung im Pensionat Herrnhut beendet ist.
Die Menschen in ihrer Umgebung sind entweder arme Kohlearbeiter oder ungebildete Bauern die durch den Verkauf ihrer Felder zu Wohlstand gelangt sind. Auf dem Gutshof leben außerdem noch ihre Schwester Martha und dessen Mann, Ingenieur Hoffmann. Die meisten dieser wohlhabenden, neureichen Bauern sind Alkoholiker geworden und gerade ihr Vater und ihre Schwester sind Alkoholiker in schwerster Form. Im Gegensatz zu den anderen in ihrer Familie, Hoffmann ausgenommen, hat Helene eine bessere Bildung und Erziehung genossen. Sie passt nicht zu der sozial schwachen, ungebildeten Umgebung, muss sich dem aber fügen und versucht so gut es geht damit klarzukommen.
Der Regieanweisung auf Seite 9 zu folge hat Helene eine „große, ein wenig zu starke Gestalt“ und „ungewöhnlich reiches“ Haar. Sie hat blondes Haar und kleidet sich modern, aber all dies verdeckt ihre eigentliche Herkunft nicht.
Ihr behütetes Leben im Pensionat steht im totalen Gegensatz zu den Verhältnissen in Witzdorf mit denen sie nun klarkommen muss. Helene spricht im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern reines Hochdeutsch und hebt sich so von den anderen ab. Dadurch, dass sie zu niemandem aus der Familie ein ernsthaftes Verhältnis hat, zieht sich Helene immer mehr in sich zurück und ist in ihrem perspektivlosen Umfeld geradezu gefangen.
Gerhardt Hauptmann zeigt an Helene die Vorstellung des Determinismus, denn Helene ist an die Umstände in ihrer Umgebung, also ihres Milieus gebunden. Durch diese Determination formt sich ihr Charakter und Verhalten, trotz der Erziehung im Herrnhut.
Helene hat in ihrem rohen Umfeld mit mehreren Problemen zu kämpfen. Ihr ständig alkoholisierter Vater vergreift sich des Öfteren unsittlich an ihr, wie man auf Seite 42 ff. nachlesen kann. Allerdings erwähnt sie auch später noch, dass nichts schlimmer werden könne als jetzt, da „ein Trunkenbold von Vater […] vor dem die eigene Tochter nicht sicher ist“ ihr Leben ruiniert.
Ein weiteres Problem hat sie mit ihrer Stiefmutter, denn diese kommt mit ihrer Art nicht zurecht, wahrscheinlich da Helene genau das verkörpert, was Frau Krause gerne wäre.
Helene ist dem Neffen ihrer Stiefmutter versprochen, den sie allerdings nicht heiraten möchte. Durch ihr Wissen über die Beziehung ihres Verlobten und ihrer Stiefmutter, kann sie dieser drohen, was das schlechte Verhältnis aber mehr verschlechtert.
Im Hinblick auf die sozialen Probleme in Witzdorf kann man Helene als naiv beschreiben, denn sie begreift die Umstände in denen die Kohlearbeiter leben nicht. Diese nennt sie in einem Gespräch mit Loth, beispielsweise „rohes Pack“ (S. 24).
Als Loth in Witzdorf auftaucht erscheint dieser ihr als Retter, denn von alleine kann sie aus ihrer verhassten Umgebung nicht fliehen. Im ersten Akt, gerade beim Abendessen, wo Loth und Hoffmann sich unterhalten, schämt sich Helene für die unqualifizierten Beiträge ihrer Stiefmutter.
Helene ist ziemlich psychisch labil und findet in Loth jemanden, an dem sie sich orientieren kann. Bei ihrem Gespräch im Obstgarten beispielsweise versucht sie, Loth’s Vorstellung einer idealen Gesellschaft zu verstehen und sie ist schließlich überzeugt davon, dass er sie nicht verlassen würde oder sie zumindest mitnehmen würde. Dies schließt sie wahrscheinlich aus der Bemerkung von Loth auf Seite 53 wo er mein, er könne nur glücklich sein, wenn alle anderen Menschen um ihn herum glücklich wären.
Ich halte Helene für ein naives Mädchen, aus dem aber etwas ganz anderes hätte werden können, wenn sie nicht in der verrohten Umgebung ihrer Familie leben würde. Gerhardt Hauptmann verdeutlicht an ihr, wie bereits erwähnt, die Determination durch das Milieu.
Loth bricht Helene das Herz, als er sie verlässt und sie begeht daraufhin Selbstmord. All dies weist auf ihre Labilität und Sensibilität hin. Sie könnte niemals von alleine Witzdorf verlassen und ein neues Leben anfangen, hat aber drauf vertraut, dass Loth sie dort rausholen würde.
Im starken Kontrast zu Helene steht ihre Stiefmutter Frau Krause deren Vorname im Drama nicht erwähnt wird. Sie hebt sich durch ihren starken schlesischen Dialekt hervor und Hauptmann verdeutlicht damit ihren niedrigen Bildungsstand. In der Regieanweisung auf Seite 27 wird sie als „furchtbar aufgedonnert“ beschrieben und auch im Verlauf des Dramas wird dem Leser immer deutlicher, dass Frau Krause gerne zum Adel oder zu den Reichen gehören würde und dafür zumindest vom Äußeren alles dafür tut. Allerdings wirkt dieses überladene Art auf die meisten Intellektuellen eher lächerlich.
Frau Krause ist durch ihre Heirat mit Bauer Krause zu Reichtum gelangt und ich denke man geht richtig in der Annahme, sie habe nur aus Geldgier und Prestigegründen geheiratet.
Der neue Reichtum vermag ihre bäuerliche Art nicht zu verbergen und auch ihr übermäßiger Alkoholkonsum wirkt nicht vornehm.
Gerhardt Hauptmann verdeutlicht an Frau Krause unter anderem auch die Doppelmoral der Bürger die in naturalistischen Dramen oft eine Rolle spielt. Frau Krause droht nämlich ihrer Magd mit dem Rauswurf, da sie diese mit dem Großknecht im Bett erwischt hat (2. Akt S. 58ff.) hat allerdings gleichzeitig eine Affäre mit ihrem Neffen Wilhelm Kahl, der ihrer Stieftochter versprochen ist.
Des Weiteren hat Frau Krause eine aufbrausende Art, wie man an der Situation mit der Magd sehen kann. Sie hat nicht nur einen starken Dialekt sondern redet laut Regieanweisung auf Seite 28 „je länger um so schneller“ was meiner Meinung nach nicht von einer vornehmen Erziehung schließen lässt.
Der Reichtum hat Frau Krause nicht zu einem großzügigen Menschen gemacht, im Gegenteil, sie jagt jeden aus dem Haus, der es auch nur wagt zu klingeln. Dies musste Loth zu Anfang seines Besuches (S. 7) auch erfahren, wo Frau Krause dachte, er wäre zum Betteln gekommen.
Aufgrund des Verhaltens von Frau Krause halte ich sie für eine egozentrische Person, die sich grundsätzlich in den Mittelpunkt stellen möchte und für etwas anderes gehalten werden möchte als sie eigentlich ist. Dies scheint mir auch der Grund für das Problem zwischen ihr und ihrer Stieftochter Helene zu sein, denn mit dieser kommt sie offensichtlich nicht klar. Zumindest soweit nicht, dass sie Helene eine Ohrfeige gibt. Doch diese erpresst sie mit dem Wissen um die Affäre mit Kahl und die Situation geht so zu Helenes Gunsten aus.
Frau Krause verdeutlicht durch ihre Art, dass sie mit dem plötzlichen Reichtum nicht besonders gut umgehen kann und Hauptmann zeigt an ihrem Beispiel welche sozialen Probleme es in Witzdorf, stellvertretend für die gesamte damalige Gesellschaft, gibt.
06.06.08