Interpretation: Junge
Der Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ wurde 1957 von Alfred Andersch (4.2. 1914 – 21.2 1980) geschrieben und beschäftigt sich mit dem Thema der Flucht aus dem dritten Reich. Das Buch hat 179 Seiten und ist in 37 Unterabschnitte gefasst. Die Romanhandlung wird aus den Perspektiven von 5 unterschiedlichen Charakteren erzählt, der Jüdin Judith, dem Fischer Knudsen, seinem Schiffsjungen, dem kommunistischen Partei Mitglied Gregor und dem Dorf Pfarrer Helander. Im Verlauf der Handlung werden die Abhängigkeiten der verschiedenen Figuren von einander immer deutlicher. Im Mittelpunkt aller Abhängigkeiten steht Knudsen, denn er hat die Möglichkeit Personen oder Güter auf seinem Kutter ins Ausland zu schaffen. Auf ihn sind nun Helander, Judith, Gregor und später auch der Junge zur Erfüllung ihrer persönlichen Pläne angewiesen, denn Judith muss wegen ihrer Religion vor dem NS Regime ins Ausland fliehen, Helander möchte die von den Nazis bedrohte Holzfigur „Der lesende Klosterschüler“ nach Schweden schaffen, der Junge will endlich aus dem langweiligen Dorf Rerik, indem der Roman spielt, herauskommen und Gregor ist zur Ausführung seiner ersten eigenen Aktion „jüdisches Mädchen“ auf Knudsens Hilfe angewiesen. Letztendlich sagt Knudsen seine Hilfe zu und bringt den Klosterschüler und Judith nach Schweden. Als Helander seine verbotene Figur in Sicherheit gebracht hat, stellt er sich den Gestapo Beamten und erschießt einen von ihnen bevor er selbst erschossen wird. Der Junge will zuerst egoistisch seine eigenen Pläne verwirklichen und einfach in Schweden bleiben, wodurch er Knudsen einer Verhaftung aussetzen würde, entscheidet sich dann aber dafür doch zurückzukehren und mit Knudsen nach Rerik zu fahren. Im Folgenden möchte ich die Entwicklung des Jungen im Verlauf der Romanhandlung verdeutlichen.
Der Name der Figur „des Jungen“ wird im gesamten Roman nicht genannt. Deshalb ist im weiteren Verlauf auch im bezug auf diese Figur immer nur „vom Jungen“ die Rede. Der Junge ist, wie der Name bereits andeutet, der Schiffsjunge von Knudsen dem Fischer. Er ist von Beginn an von den anderen Figuren des Romans deutlich distanziert, was auch dadurch auffällt, dass alle Abschnitte des Jungen Kursiv geschrieben sind. Dadurch wird zusätzlich zur Inhaltlichen Abgrenzung noch eine formale Abgrenzung von der restlichen Handlung geschaffen. Die Distanz die zwischen dem Jungen und den restlichen Figuren liegt, ist auch zwischen dem Jungen und der restlichen Welt erkennbar. Er grenzt sich mit Absicht ab und versteckt sich vor den Erwachsenen und deren Langweiliger Welt, die voller Regeln und Hindernisse für ihn ist. Er lebt in einer Traumwelt, die er aus den Abenteuern des Huckelberry Finn und den Karl May bänden entnommen hat. Diese Abgrenzung ist Resultat des Hasses die er auf alle Bewohner des Dorfs Rerik hat, da diese seinen Vater, den der Junge nie kennengelernt hat, als Säufer bezeichnen der „besoffen“ auf See umkam. Aus dieser für ihn tristen Lage heraus entwickelt sich in dem Jungen der Wunsch nach Freiheit, wie sie ihn Huckelbery Finn beschrieben ist. Es stellt sich für ihn jedoch sehr schwer heraus diese Freiheit zu erlangen, da er noch ein Kind ist und deshalb nicht einfach ins Ausland reisen kann um dort die von im gewünschten Abenteuer zu erleben. Als schließlich im 15ten Abschnitt seine Frage an die Mutter ob er sich mit 16 eine Heuer auf einem Hamburger Frachter suchen darf mit den Worten „Fang nicht wieder damit an, du weißt, dass das nicht in Frage kommt[…]“ (S.43 Z.3-4) beantwortet wird, wacht er aus seiner Traumwelt auf und erkennt, dass die Wirklichkeit sich stark von seinen Abenteuererzählungen unterscheidet. Von dieser Erkenntnis getroffen kehrt er noch ein letztes Mal in sein Versteck zurück und findet dort den letzten Grund warum er aus Rerik weg möchte, nämlich Sansibar, den Ort den er für paradiesisch und voll von Abenteuer hält. In Abschnitt 25 beginnt somit die geistige Entwicklung des Jungen. Er verabschiedet sich von seinen alten Kinderträumen und wendet sich wieder der Realität zu. Gleichzeitig trifft er aber auch Scheinbar endgültig die Entscheidung Rerik zu verlassen mit der Formulierung des letzten Grundes. Gleichzeitig mit der inneren Wende des Jungen tritt auch für seine Person im Roman eine Wende ein, als er sofort im nächsten Abschnitt im scheinbar so langweiligen Rerik eine Spur von Abenteuer entdeckt. Selbst sein Hass auf Knudsen als einen der tristen Erwachsenen schwindet, als er erfährt, dass Knudsen sich selbst in Gefahr bringt um jemanden über die Ostsee nach Schweden zu bringen. An dieser Stelle verliert der erste Grund des Jungen, nämlich die Langeweile in Rerik, seine Bedeutung, da dem Jungen ja nun eindringlich das Gegenteil vermittelt wird. Als dann die Flucht von Judith und dem Klosterschüler beginnt, tritt der Junge erstmals in Kontakt mit der kleinen Holzfigur. Sie ist für ihn sofort ein Symbol für seine persönliche Freiheit, was man an den Worten „Wenn sie rauskommt, komme ich auch raus.“ (S.151 Z.21) erkennen kann. Hier findet eine Identifikation mit dem Klosterschüler statt, der für den Jungen ein Symbol der Flucht darstellt. Als schließlich alle auf Knudsens Kutter angekommen sind erzählt er Judith von seinen Fluchtplänen. Diese versucht sofort ihn davon abzubringen, mit der Begründung, dass wenn er in Schweden bliebe die Gestapo Knudsen verhaften würde, da das ein sicherer Beweis dafür wäre, dass Knudsen im Ausland war. Dieses Argument tut der Junge jedoch ganz einfach mit der Aussage „Meinetwegen, er ist nur ein Erwachsener.“ ab. Hier zeigt sich der ausgeprägte Egoismus des Jungen, denn er ist so darin versunken über sein eigenes Leid nachzudenken, dass er ganz vergisst an andere zu denken. Auch als Judith ihre Bedenken äußert, denkt er nur an seinen Vater und nimmt ihn als Rechtfertigung vor sich selbst und sieht sein Handeln als wenn nicht gerechtfertigte, dann zumindest als nicht unverdiente Strafe gegen Knudsen dafür an, dass er auch einer von denen ist die ihn nur als den Sohn eines Säufers sehen. Außerdem identifiziert sich der Junge wieder mit dem Klosterschüler „[…]der Junge aus Holz da nahm auch auf niemanden Rücksicht, er haute auch ganz einfach ab, und alles was er zurückließ war ihm egal, ich will es genauso machen wie er[…]“ (S.166 Z. 9-12) und nimmt dies als weitere Rechtfertigung für sein egoistisches Handeln. Als der Kutter samt Passagieren endlich in Schweden ankommt, nutzt der Junge seine Chance und geht von Bord, als Knudsen den Kutter verlässt um Judith ins nächste Dorf zu führen. Er läuft tief in den Wald und findet dort eine Hütte mit einem Weiher davor. Er angelt sich einen Fisch zum Abendessen. Als er diesen isst stellt er fest, dass dieser fader schmeckt als der Fisch zu Hause. Er kehr noch einmal zur Anlege stelle zurück um zu sehen, ob Knudsen bereits abgefahren ist. Als er sieht, dass er noch da ist und scheinbar nur auf ihn wartet kehrt der Junge auf das Schiff zurück und fährt mit Knudsen gemeinsam zurück nach Rerik. Dies tut er, da nun auch seine letzten beiden Gründe aus Rerik zu fliehen, nämlich den Hass auf Alle und sein Fernweh, vergangen sind. Er hat festgestellt, dass in Schweden auch nicht alles besser ist als zu Hause und außerdem hat er in Knudsen jemanden gefunden, den er mag und der ihm vertraut. Da nun all seine Gründe zu fliehen nichtig sind entscheidet er sich dafür nach Rerik zurückzukehren. In dem Moment, als er diese Entscheidung trifft, erkennt er seine wahre Freiheit, nämlich die Freiheit Menschen zu unterstützen. Er erkennt, dass seine wahre Freiheit in sozialer Verantwortung liegt und nicht in einer Flucht ins Ausland, von der man sich Abenteuer erhofft.

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Sansibar oder der letzte Grund – Charakterisierung – Junge
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bro

Danke 🙂