Der zehnte Auftritt des vierten Aufzugs in Friedrich von Schillers klassischem Drama „Maria Stuart“ aus dem Jahre 1800 ist ein Monolog der englischen Königin Elisabeth, in dem diese, von Selbstmitleid, Selbstzweifel, Selbstkritik und Angst geprägt, schließlich eine Entscheidung für den Tod ihrer Widersacherin Maria trifft, die sich in Elisabeths Gewalt befindende Königin Schottlands.

Elisabeth verurteilt ihr Königinnen-Dasein und die Abhängigkeit vom Volk respektive die Pflicht, dessen Willen zu dienen und zu gehorchen; dabei definiert sie den wahren König als einen in seinen Entscheidungen nur sich selbst verantwortlichen Herrscher, der es sich erlauben könne, auch gegen den Volkswillen zu handeln.

Daraufhin bereut sie ihre bisherige Milde und Gerechtigkeit, die es ihr andererseits schwer mache, jenem Volkswillen zu folgen, weil die Verurteilung Marias im Nachhinein, aufgrund des Abweichens vom Kurs der Milde, auf Unverständnis und schweren Unmut seitens jenen Volkes treffen könne. In Ansehung der hohen internationalen Spannungen, die England gegenüber seinen Feinden Frankreich, Spanien und der katholischen Kirche isoliere, beklagt Elisabeth ihre Ohnmacht, die zurückzuführen sei auf die Schändung durch ihres Vaters ungebührliches Verhalten, nämlich der nicht-konformen Zeugung Elisabeths mit der Mätresse Anna Boleyn.

Dieser Hass auf ihre Abstammung führt Elisabeths Gedanken zu Maria, der Verkörperung des dynastischen Mankos. In dieser sieht Elisabeth den Anlass für all ihre Probleme. Maria hassend und beleidigend beschließt sie deren Hinrichtung und die damit einhergehende Eliminierung aller dynastischen Zweifel.

Elisabeth beginnt ihren Monolog mit zwei pejorativen Metaphern für ihre Herrschaft: „Sklaverei des Volksdiensts“ (3190) und „schmähliche Knechtschaft“ (3190f). Sie, die höchste Frau Englands, sieht sich paradoxerweise als Sklavin bzw. Knecht des Volkes. Als König möchte sie sich erst bezeichnen, wenn diese Abhängigkeit aufgelöst würde. Der in ihren Worten mitschwingende Hass und die Erregtheit des Charakters wird in diesem Abschnitt (entspricht 3190-3199) deutlich durch die Anhäufung an Pejorationen, wie „Götzen“ (3190) oder „Pöbel“ (3195), und Ausrufezeichen (3190, 3192, 3193, 3198). Dass ihr Unmut über die Entscheidungsgewalt des Volks nicht von einer der Volksmeinung generell entgegengesetzten Ansicht über das Schicksal Marias herrührt, was einer Begnadigung derselben gleichkäme, Elisabeth, ganz im Gegenteil, in diesem Punkt mit der aktuellen Volksansicht sogar übereinstimmt, dass ihre Aversionen statt dessen aus einer Angst hervorgehen müssen, das Volk könne in seinen Ansichten schwanken, wird im nächsten Abschnitt (3200-3211) deutlich, in dem Elisabeth ihre Tugenden Gerechtigkeit (vgl. 3200) und Gewaltlosigkeit anprangert und ihre despotische Kollegin Maria von Spanien um ihre blutige Kompromisslosigkeit beneidet. Auffällig ist hier, dass Elisabeth sich zunächst mehrfach selbst beschuldet (3203, 3204), ihre Milde endlich jedoch von einer „allgewaltige[n] Notwendigkeit“ (3109f), einem höheren Schicksal deduziert.

Die folgenden Worte sind von einer Irrationalität begleitet, der, einhergehend mit einer steigenden Emotionalität, Elisabeths plötzliche und überschnelle Unterschreibung des Vollziehungsbefehls zuzuschreiben ist.
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Für die Verschworenheit des europäischen Festlands gegen sie und ihr Land, für ihre eigene Ohnmacht gegenüber dieser Übermacht macht sie ihre unreine Herkunft verantwortlich und damit Maria, die auf diese Unreinheit und Illegitimität besteht, gegen diese propagiert und Elisabeth die Rechtmäßigkeit der Herrschaft abspricht (vierter Abschnitt: 3212-3227).

Durch die Versiegelung der Quelle allen Übels meint Elisabeth dem reißenden Strom an Konsequenzen und Differenzen den Hahn zuzudrehen und somit die Wogen ihrer Herrschaft zu glätten.

Der Tod Marias wird Elisabeth nicht die außenpolitische Ruhe bereiten, die sie hier leichtfertig erwartet. Der Tod Marias wird auch nicht die Wunden ihrer befleckten Ehre stillen.
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Elisabeths naive Ausrufe Anfang des vierten Abschnitts (ab 3228), zum Beispiel „Ich will Frieden haben“ (3229), muten lächerlich an und erinnern an das Kind, das mit dem Kopf durch die Wand seine Ziele zu erreichen gedenkt. Hier beginnt Elisabeths emotionaler Klimax, von vielfältigen Bezeichnungen der Maria als „Furie“, „Plagegeist“ und „Höllenschlange“ begleitet. Nachdem Elisabeth vorher mehrfach ihre Ohnmacht hervorhob, hat sie in Maria nun ein ihr ergebenes Opfer gefunden, das ihre eigene Ohnmacht bedecken soll, was in Vers 3241 deutlich wird an den Worten „Ohnmächtige! Ich führe bessre Waffen“.

Mit der Vollstreckung des Todesurteils verspricht sich Elisabeth die Tilgung der Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihres Amtes, und in Vers 3247 kommt sie zurück auf das Volk, den „Briten“, dem dann „keine Wahl mehr“ bliebe als das Akzeptieren dieser Rechtmäßigkeit. Diese Ansicht Elisabeths bleibt unbegründet; es leuchtet nicht ein, wieso mit dem Tod Maria Stuarts alle Zweifel ausgeräumt sein sollen, zumal deren Hinrichtung doch für umfangreichen Gesprächsstoff sorgen wird. Elisabeth versäumt auch, auf weitere innen- und außenpolitische Konsequenzen von Marias Hinrichtung einzugehen. In ihrer Überhitztheit verdrängt sie die Argumentation Shrewsburys aus dem vorhergehenden Auftritt, um die Entscheidung schnell hinter sich zu bringen, statt die Argumente bedächtig gegeneinander abzuwiegeln und eine rationale Entscheidung zu treffen. Elisabeth entspricht spätestens hier nicht mehr dem Ideal der Aufklärung, sondern lässt sich von Maria Stuarts stürmerischen Charakter zu einer Affekthandlung hinreißen.

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Analyse Szene 4.10 (Monolog Elisabeths) aus “Maria Stuart”
Wissen verdoppelt sich, wenn man es teilt.
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