„Memento mori“ („Bedenke, dass du sterben musst“) und „Carpe diem“ („Nutze den Tag“, ein Zitat von Horaz) sind die Sinnsprüche des barocken Lebensgefühls. Beide Aussagen sind jedoch geprägt vom Bewusstsein der „Vanitas“, also der Vergänglichkeit nicht nur allen Lebens sondern sogar aller physischer und metaphysischer Dinge.
Das von Andreas Gryphius um 1650 verfasste Gedicht „Einsamkeit“ handelt von eben dieser Endlichkeit und benennt den für ihn einzigen Weg mit dem Wissen darum umzugehen, das Haltfinden bei Gott.

In der ersten Strophe findet sich das lyrische Ich allein, in einer naturbelassenen Umgebung wieder, seiner Seelenlandschaft. Von einem erhöhten Punkt aus kann es alles überblicken. Strophe zwei thematisiert die Ansichten des lyrischen Ichs über die Zivilisation. Die dritte Strophe zählt die Schrecken der allgegenwärtigen Vergänglichkeit für die Menschen auf. Der Ausweg aus der Situation wird in Strophe vier beschrieben.

Das Gedicht folgt dem Aufbau eines barocken Sonettes. Zwei Quartetten, welche jeweils aus einem umarmenden Reim bestehen, die wiederrum je einen Paarreim fassen, folgen zwei Terzette, welche durch einen Schweifreim verbunden, aus je einem Paarreim bestehen. Des Weiteren finden sich sechs Enjambements, welche Vers 1 und 2, 5 und 6 sowie 9 bis 10 und 12 bis 14 verbinden. Das Metrum des Alexandriners (sechshebiger Jambus mit fester Zäsur nach der dritten Hebung) bestätigt als Merkmal die Form des Sonetts.

Das Gedicht beginnt Gryphius mit der Umschreibung seiner Ausgangsposition, welche ihm nicht nur irdischen sondern auch mentalen Abstand zu den Dingen ermöglicht. Zum Einen ist es sehr ruhig . Die einzigen sonstigen Lebewesen sind „Eulen nur und stille Vögel“ (V. 4), wobei erstere nachtaktiv und somit ebenfalls still in diesem Moment sind. Weder von Wind- noch Wassergeräuschen ist die Rede. Zum Anderen ist die Umgebung sehr nüchtern. Nichts kann ihn ablenken oder stören in den „mehr denn öden Wüsten“ (V. 1) und „auf wildes Kraut“ (V. 2) liegend, was noch von keiner Menschenhand kultiviert wurde. Hierfür verwendet Gryphius eine Hyperbel um die absolute Abgeschiedenheit und damit verbundene Klarheit und Nichtbeeiflussung noch zu unterstreichen. Dem Leser wird hier die Grundlage für das Verstehen der zweiten Strophe gegeben, in der er die Zivilisation von seinem nüchternen, distanzierten Punkt aus genauer betrachtet, was einer realistisch-objektiven Beurteilung gleich kommt.

Dies wird noch einmal mit den Attributen „fern“ und „weit“ (V. 5) zu Beginn von Strophe zwei deutlich gemacht. Im nächsten Vers finden wir eine Gegenüberstellung von Adel und gemeinem Volk. Beides erhält durch Gryphius eine negative Konotation. Der Adel findet sich im Bild des „Palastes“
(V. 5), einer Metonymie, wieder. Es hätte auch Burg oder Schloss heißen können. Palast jedoch ist am dekadentesten bewertet. Mit dem Wort allein gehen Prunk- und Verschwendungssucht, sowie Hochmut der herrschenden Klasse einher. Die Bezeichung „Pöbel“ (V. 5) ist ebenso abwertend und lässt die Vorstellung von ungebildetem, niederem Stand entstehen. Unter den „Lüsten“ (V. 5) des Pöbels darf man Trunk- und Sexsucht assoziieren.
Gryphius spielt hier klar auf die typischen Laster der barocken Epoche an und fasst alle Menschen zusammen indem er die ihnen gemeinsamen Problem nach einander anspricht. Da wäre das Vergehen in „Eitelkeit“ (V. 6) also Nichtigkeiten. Er sieht also wohl, dass die Menschen oberflächlich gesehen gern lasterhaft sind, aber das eben darin ihr verderbliches Schicksal liegt. Gryphius meint damit, dass sie, egal ob arm oder reich, ihr Leben verschwenden und das ihnen dieses Verhalten zum Verhängnis wird; sie den falschen Weg gehen. In Vers 7 spricht er davon, dass die Hoffnungen der Menschen, vielleicht auf ein besseres Leben, welches nicht in Alkohol u.ä. ertränkt werden muss, auf „nicht festem Grund“ steht, wobei er sogar sich mit einbezieht indem er „unser Hoffen“ (V. 7) sagt. Das heißt also, dass alle ohne Halt umherirren. Festes Hoffen findet keine Basis, da es kein Anzeichen von Besserung und keine versprechende oder gar verlässliche Obrigkeit gibt welche sie führen würde. Schließlich befinden wir uns im Gedicht in der Zeit des Barock, geprägt vom Dreißigjährigen Krieg, Krankheit und politischer Zersplitterung; von Chaos. So zählt Gryphius zuletzt das Resultat daraus auf. Er kann beobachten „Wie die vor Abend schmähn, die vor dem Tag uns grüßten“ (V. 8). Übersetzen könnte man das mit: Diejenigen, welche noch vor Tagesanbruch fröhlich unterwegs waren haben die größte Angst vor dem „Abend“ (V. 8), was hier als Lebensabend und schließliches Sterben interpretiert werden kann. Er kritisiert also die Schnelllebigkeit seiner Zeit, hat aber gleichzeitig verstanden was eigentlich dahinter steckt, die Angst vor dem Tod.

Das erste Terzett beginnt mit einer Kumulation: „Die Höhl, der raue Wald, der Totenkopf, der Stein“(V. 9). Die Aufreihung karger, beunruhigender Gegenstände (der Totenkopf als eindeutigstes Todessymbol) illustriert das „Memento mori“-Motiv, welches der Widerspiegelung des Lebensstils nach „Carpe diem“ aus Strophe zwei antithetisch gegenübersteht. Mittels Relativsatz (von Gryphius häufig verwendet) wird noch einmal die Unaufhaltsamkeit der „Vanitas“ mit ganzer Kraft zum Ausdruck gebracht, denn selbst der Stein, ein beinahe unauslöschliches Ding, kann durch eine Macht „aufgefressen“ (V. 10), also ins Nichts aufgelöst werden – der Zeit. Diese Personifikation vermittelt beim Leser die Vorstellung eines unbändigen Monstrums, das unbeherrschbar und unaufhaltsam seinen Weg geht. Ein sehr guter Vergleich, da sich dem Sterben von Geburt an niemand widersetzen kann. Hier gipfelt der Pessimismus des Gedichtes. Verglichen mit Heute ist der Tod jedoch viel weniger allgegenwärtig, weshalb der Mensch weitaus unbeschwerter lebt und sich nicht permanent bedroht fühlt. Die Zeit ist also kein Monstrum mehr für die meisten von uns. Viele Menschen sehen dem Altwerden sogar positiv entgegen. Vermutlich auch weil sie wissen, dass sie ein langes Leben haben werden, wovon der Mensch des 17. Jh. keineswegs ausgehen konnte, in keiner sozialen Schicht. Hierfür stehen „die abgezehrten Bein’“ (V. 10) die aus dem beschwerlichen und auch gefährlichen Leben dieser Zeit resultieren. So baut der Körper schneller ab. Diese ‚mitgenommenen‘ Menschen, die so viel zu kämpfen und zu leiden hatten, stellten sich demnach logischerweise viele schicksalhafte Fragen, warum und wozu sie da seien, wie das Sterben sei, wann der Tod auch sie hole oder womit sie ihr Schicksal verdient hätten. Gryphius umschreibt diesen Zusammenhang mit: „die abgezehrten Bein’/Entwerfen in dem Mut unzählige Gedanken“ (V. 11).

In der letzten Strophe des Sonetts zieht Gryphius sein Resumé. Er bewertet zunächst diesen unkultivierten, naturbelassenen aber auch unbelebten, einsamen und trostlosen Ort, welcher von den meistens Menschen als unangenehm und lebensunfreundlich empfunden würde, als positiv („dies unbebaute Land/Ist schön und fruchtbar mir“ V. 12-13). Zum ersten Mal im Verlauf des Gedichts wird so etwas wie eine optimistische Stimmung transportiert. Denn da wo noch keine Zivilisation ist oder wo sie schon wieder verschwunden ist („Der Mauern alter Graus“ V. 12) da gibt es die Möglichkeit auf ein Leben abseits der schrecklichen „Vanitas“.
Seine Erkenntnis ist hoffnungsvoll, was eher weniger häufig in barocken Sonetten der Fall ist. Er weißt den Leser beinahe appelativ darauf hin, dass nur Gott die Rettung inne wohnt. Hierzu verwendet er das Negativbeispiel. Er schreibt: „dass alles ohn‘ ein Geist, den Gott selbst hält, muss wanken“ (V. 14) was soviel bedeutet wie: Das was keinen Geist, also Sinn enthält, wie zum Beispiel der Mensch, der in den Tag hinein lebt und seinen Gelüsten nachgeht ohne nachzudenken, diejenigen müssen ihr Leben, beruhend auf Unbestand und Ungewissheiten, leben. Doch er weißt den Weg auch für die, die den Sinnlosigkeiten ergeben sind, denn er schreibt, dass Gott diesen Sinn beherbergt. Wenn wir zu Gott finden, findet das „Wanken“ (V. 14) ein Ende.

Das Leben von Andreas Gryphius war geprägt von von Leiden dominierter Zeiten. Im Speziellen dem frühen Verlust seiner Eltern und anderer Angehöriger, der Zerstörung seiner Heimat im Dreißigjährigen Krieg und den damit verbundenen Religionsverfolgungen. Erfüllt von einer tiefen Friedenssehnsucht empfand er die Tragödien seiner Zeit besonders stark.
In „Einsamkeit“ thematisiert er das Leid und den moralischen Verfall im Zusammenhang mit Krieg sowie die Unruhe, Einsamkeit und Zerrissenheit der Menschen. Daneben findet sich in seinen Werken, wie auch in diesem, der wiederholte Hinweis auf „Eitelkeit“ und das für die Epoche des Barock typische Motiv der Vergänglichkeit allen menschlichen Schaffens und Strebens.

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„Einsamkeit“- Gedichtinterpretation – Andreas Gryphius
Wissen verdoppelt sich, wenn man es teilt.
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