Interpretation eines Romanauszuges:
Bernhard Schlink: „Der Vorleser“
(S.134 – 139)
In dem vorliegenden Auszug aus dem modernen Roman “Der Vorleser” von Bernhard Schlink wird die Szene beschrieben, in der Michael Berg von seinem zu ihm distanzierten Vater über die Würde des Menschen und die Pflicht eines jeden, die Würde anderer zu respektieren belehrt wird.
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Der Auszug beginnt damit, dass der Hauptcharakter des Buches, Michael Berg, beschließt, mit seinem Vater reden möchte, obwohl er diesem noch nie nahe gestanden war. Michael berichtet seinem Vater, dass er jemanden kenne, dem er helfen könne, aber nur unter der Bedingung, dass er dessen Geheimnis, welches schon sein ganzes Leben lang gehütet worden war, preisgeben müsse. Nach einer längeren Bedenkzeit beginnt Michaels Vater über die Freiheit und Würde des Menschen zu reden. Außerdem betont er, dass der Mensch nicht als Objekt, sondern als Subjekt zu betrachten sei. Dabei bringt er ein Beispiel aus Michaels Kindheit an. Er erinnert dabei seinen Sohn an die Zeit, in der Michaels Mutter immer wusste, was gut für ihr Kind gut war und was nicht. Mit diesem Beispiel kommt Michaels Vater ebenfalls auf das Thema zu sprechen, dass es ein wirkliches Problem ist, zu entscheiden, ob man für seine Kinder sprechen darf oder ihnen die Möglichkeiten geben sollte, selber Entscheidungen zu treffen. Doch im Gegensatz dazu steht für Michaels Vater überhaupt nicht in Frage, ob bei Erwachsenen jemand anderes über sie bestimmen sollte. Für ihn ist es klar, dass jeder ausgewachsene Mensch selbst über sein Leben verfügen sollte und dass keine andere Person ihm seine Entscheidungen abnehmen dürfe, selbst dann nicht, wenn ihm das zum späteren Glück verhelfen würde. Michael beschreibt anschließend seinem Vater seinen Zwiespalt. Er sagt, dass er nicht gewusst habe, ob man in solch einer Situation, in der er sich befindet, handeln sollte oder einfach die Dinge geschehen lassen sollte. Michaels Vater gibt ihm auch hierauf eine Antwort. Er sagt, dass es natürlich richtig sei, zu handeln. Man solle versuchen, dem anderen zu helfen, indem man ihm die Augen öffne, nicht jedoch, indem man hinter des anderen Rücken über dessen Geheimnis spreche. Doch Michael erkennt, dass er nicht mit Hanna über ihren Analphabetismus sprechen könne. Deshalb fragt er seinen Vater, was man machen solle, wenn man nicht mit der Person reden könne. Doch darauf weiß auch sein Vater keine richtige Antwort. Er ist von sich selbst enttäuscht, dass er seinem Sohn offensichtlich nicht helfen konnte, sagt aber zu Michael, dass dieser trotzdem jederzeit zu ihm kommen könne. Obwohl Michael ihm das Letztgesagte nicht glaubt, nickt er.
Der Auszug entstammt dem zweiten Teil des Buches. Das erste Drittel des Romans hatte sich mit der stark ungleichaltrigen Beziehung zwischen Michael Berg und Hanna Schmitz beschäftigt, die am Ende dieses Teils durch Hannas Verschwinden zu Bruch gegangen war. Der folgende Teil, dem auch der vorliegende Ausschnitt entstammt, handelt nun von dem Wiedersehen der beiden. Doch diesmal sehen sie sich lediglich in einem Gerichtssaal, da Hanna angeklagt worden war, als KZ-Wächterin für den Tod vieler verantwortlich zu sein. Sie gibt zu, einen gewissen Bericht geschrieben zu haben, was ihre Schuld auf jeden Fall bestätigen würde. Nur sie und bald auch Michael wissen, dass sie den Bericht gar nicht geschrieben haben kann. Denn Hanna ist Analphabetin. Michael weiß, dass er sie vor einer harten Strafe bewahren könnte, wenn er dem Richter sagen würde, dass die Angeklagte den Bericht gar nicht hatte schreiben können. Doch er erkennt, dass Hanna schon ihr Leben lang das Geheimnis ihres Analphabetismus verschwiegen hatte. Dadurch weiß er nicht, was er tun soll. Darum beschließt er, mit seinem Vater, ein Philosoph, über sein Problem zu sprechen. Genau diese Szene wird in dem vorliegenden Ausschnitt beschrieben. Nach dem Gespräch mit seinem Vater hat Michael den Entschluss gefasst, weder mit dem Richter, noch mit Hanna selbst zu reden. Er sieht mit an, wie Hanna zu lebenslänglich verhaftet wird. Der dritte Teil des Romans beschreibt den Kontakt per Post zwischen der inhaftierten Hanna und Michael. Obwohl Hanna später ein Gnadengesuch stattgegeben wird, sehen die beiden sich nicht noch einmal außerhalb des Gefängnisses wieder, denn an dem Tag ihrer Freilassung wird Hanna tot in ihrer Zelle aufgefunden. Sie hatte Selbstmord begangen.
Ein prägnanter und syntaktisch simpler Satz (“Ich beschloss, mit meinem Vater zu reden.”) leitet den vorliegenden Ausschnitt, der gleichzeitig ein Kapitel des Romans darstellt, ein. Doch dieser scheinbar einfache Satz trägt eine wichtige inhaltliche Aussage in sich, denn er gibt der Handlung eine überraschende Wende. Schlink benutzt in seinem Roman oft solche umkomplizierten Sätze, um ein neues Kapitel zu beginnen und um unerwartete Informationen zu vermitteln. Auch insgesamt vermeidet Schlink komplexe Phrasen und bevorzugt die Verwendung schlichter, parataktischer Sätze. Nach jenem einleitenden Satz klärt der Erzähler, also Michael Berg, der über seine Vergangenheit berichtet, den Leser über sein damaliges Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater auf. Dabei beschreibt er Gedanken, die er als Kind über seinen Vater gehabt hat und die sich später jedoch eher ins Negative verändert haben. Doch nur hauptsächlich mit Vermutungen, welche durch Adverbien wie „vielleicht“oder durch Konjunktive als solche erkannt werden können, lässt er den Leser sich ein Bild von seinem Vater machen („Vielleicht war er als Junge ……“; „Er sollte auch in der Lage sein ……“). Weiterhin verwendet Schlink einige Vergleiche. Nicht nur für einzelne Wörter sucht er Vergleiche zur Beschreibung („Das Arbeitszimmer meines Vaters war ein Gehäuse, ……“), sondern lässt seinen Erzähler Charaktere mit anderen Personen, in diesem Fall Michael und seine Geschwister mit den Studenten ihres Vaters, vergleichen („Wenn wir Kinder unseren Vater sprechen wollten, gab er uns Termine wie seinen Studenten.“). Nach einer ausführlichen Beschreibung von Personen, Orten, wie das Arbeitszimmer des Vaters, oder Beziehungen zwischen Kindern und Vater tritt die eigentliche Handlung wieder in den Vordergrund. Für das Gespräch zwischen Michael und seinen Vater verwendet Schlink überwiegend direkte („“Es hat mit dem Prozess zu tun, nicht wahr?““), aber auch indirekte Rede („Er belehrte mich …… über den Menschen als Subjekt und darüber, dass man ihn nicht zum Objekt machen dürfe.“). Mitten in den Verlauf des Dialogs schiebt der Erzähler seine heutigen Gedanken über das Gespräch zwischen ihm und seinem Vater hinein („Heute denke ich gerne an das Gespräch mit meinem Vater zurück.“) Anschließend fährt der Erzähler mit der Wiedergabe der Unterhaltung fort. Dabei lässt er seine Gedankengänge einfließen („Ich wusste nicht, was sagen. Erleichternd? Beruhigend? Angenehm?……“; „Mit Hanna reden? Was sollte ich ihr sagen? Daß ich ihre Lebenslüge durchschaut hatte? ……“). Er stellt sich selber Fragen, die er sich aber nur mit weiteren Fragen „beantworten“ kann. Nach dem langen Vater-Sohn-Gespräch endet das Kapitels und damit auch gleichzeitig der Auszugs wieder mit einem kurzer Satz, der zwar auf den ersten Blick wieder nicht sehr aussagekräftig erscheint, der aber sehr gut die Beziehung zwischen Michael und seinem Vater zusammenfasst („Ich glaubte ihm nicht und nickte“). Er zeigt eindeutig, dass trotz des eigentlich vertrauten Gespräches eine sehr distanzierte Beziehung zwischen Vater und Sohn herrschen muss, denn es scheint, dass es Michael nicht einmal für wichtig hält, seinem Vater zu sagen, was er denkt.
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Bernhard Schlink setzt sich in „Der Vorleser”“ sehr intensiv mit der Schuldfrage auseinander. Dabei geht er nicht nur auf die mögliche Schuld des Einzelnen ein, sondern auch auf die Kollektivschuld.
Es geht nicht nur um die Schuld des ursprünglichen Schuldigen, sondern ebenfalls um die Frage, ob man durch die Liebe zu dieser Person ebenfalls zum Schuldigen wird. Schlink stellt die Schuld als ein zentrales Thema eines Menschen dar. So könnte man beim Lesen seines Romans meinen, dass man sich ständig mit der Frage beschäftigen müsste, wer denn an irgendeinem beliebigen Sachverhalt Schuld trägt. Nur selten jedoch, wie sich auch im Laufe des Buches herausstallt, kann bei komplexen Fällen der wirkliche Schuldige herausgefiltert werden. Meist sind es auch mehrere, die die Schuld an etwas tragen. Oft versuchen Leute, ihre Schuld von sich zu schieben und lassen andere als Schuldige erscheinen. Dadurch wird es für den Richter, der die Aufgabe hat, zwischen Richtig und Falsch zu entscheiden, umso schwieriger, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Entscheidet er falsch, kann er, der ursprünglich überhaupt nichts mit der Schuld der anderen zu tun hatte, ebenfalls zum Schuldigen erklärt werden. Der römische Mimendichter Publilius Syrus drückte dies einst mit folgenden Worten aus:
„Der Richter wird verurteilt, wenn ein Schuldiger freigesprochen wird.“ (aus „Sentenzen“; original lateinisch: „Ludex damnatur, cum nocens absolvitur.“)
Da Bernhard Schlink, welcher am 06. Juli 1944 in Bielefeld geboren worden ist, neben seiner Aktivität als Schriftsteller zusätzlich auch selbst als Jurist tätig ist, ist es nahe liegend, dass die Schuldfrage auch in seinen Romanen wiederkehrt. Wahrscheinlich möchte er durch die mehrfache Nennung von Schuld den Leser dazu anregen, ebenfalls öfter die Schuldfrage in sein Leben zu integrieren.
Die erste Konfrontation mit dem Gefühl der Schuld hatte Michael, als er glaubt, Hanna verleugnet zu haben und somit verantwortlich für ihr Verschwinden zu sein (vgl. S.129). Obwohl er später eines Besseren belehrt wird, können seine Schuldgefühle nicht getilgt werden, da die Tatsache, eine Verbrecherin geliebt zu haben, in seinen Augen ebenfalls eine Schuldigkeit nach sich zieht. In seiner Studienzeit kommt Michael besonders mit dem Thema über die Kollektivschuld in Berührung. Er erkennt, dass viele seiner Generation der Überzeugung sind, dass auch durch sie Verurteilung der als schuldig Erklärten diese Kollektivschuld nicht beseitigt werden kann. Außerdem beschäftigt ihn die Frage, ob man für die Liebe zu schuldig Gewordenen, besonders wenn es sich dabei um die eigenen Eltern handelt, selbst beschuldigt werden kann (vgl. S. 162 f. ).
Folglich gibt es unzählige Varianten, wie man sich etwas zu schulden kommen lassen kann. Die Frage nach der Schuld begegnet uns sehr oft im Leben. Oft denken wir, dass wir nur als schuldig erklärt werden können, wenn wir etwas Gesetzwidriges getan haben. Doch dabei vergessen wir, dass man genauso als schuldig erklärt werden kann, wenn man etwas nicht tut. Wenn man zum Beispiel einen Schwerverletzten nicht die Hilfe leistet, die er zum Überleben benötigt, sondern einfach zusieht, wie er stirbt, kann man ebenso für Totschlag verurteilt werden, wie wenn man dem Toten tatsächlich erschlagen hätte. Konrad Adenauer verwendete für eine solche Art von Schuld am 05. April 1957 diese Worte: „Durch ein Unterlassen kann man genauso schuldig werden wie durch Handeln.“
Doch nützt es uns etwas, wenn wir uns tagtäglich immer nur mit der Frage beschäftigen, wer schuld ist oder wer mehr schuld ist als ein anderer?
Hilft es uns denn wirklich, wenn wir unsere Schuld abschieben?
Wir selbst wissen doch in solch einem Fall tief in unserem Inneren, dass wir schuldig sind, selbst wenn es für Außenstehende so erscheint, dass wir keine Schuld tragen. Ich denke, wir müssten versuchen, zu unseren Taten zu stehen. Nur dann kann uns auch verziehen werden. Dass das nicht immer gerade sehr leicht ist, erkannte auch Ernst Frestl: „Die beiden höchsten Gebirge, die wir in unserem Leben des Öfteren mühsam zu überwinden haben, sind das Schuldbekennen und das Verzeihen.“ (aus: „Lebensspuren“).
Natürlich sollte man danach streben, ohne oder mit zumindest möglichst gering gehaltener Schuld zu leben. Denn dann kann man sich auf weitaus wichtigere Dinge konzentrieren. Natürlich wird es nie einem Menschen gelingen, völlig schuldfrei durchs Leben zu ziehen, aber wenn man erkennt, dass alles viel leichter gehen kann, wenn man Schuld vermeidet und anderen ihre Schuld verzeihen kann, würde uns dies auch ein angenehmeres Beisammensein gestatten.
Ich habe eine Zitat von dem norwegischen Schriftsteller Henrik Ibsen für den Abschluss meiner Interpretation gewählt, das, wie ich meine, genau das Ebengenannte ausdrückt:
„Glück – das ist vor allem das stille, frohe, sichere Bewusstsein der Schuldlosigkeit.“ (aus dem Drama „Rosmersholm“)