Analyse – “Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn”
Friedrich Nietzsches sprachtheoretischer Text “Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn” aus dem Jahre 1873 befasst sich mit dem Wahrheitsbegriff in Bezug auf Sprache. Nietzsche setzt sich auf eine kritische Art und Weise mit dem Problem des menschlichen Wahrheits- und daraus resultierenden Ehrlichkeitsbegriffs auseinander und knüpft diesen Gedanken untrennbar an die seiner Meinung nach scheinbare Unzulänglichkeit und mangelnde Präzision der Sprache.
Historisch betrachtet schreibt Nietzsche in einer Zeit des Umbruchs – im wahren Sinne des Wortes – denn er ist ein Geist seiner Zeit im Übergang in das 20. Jahrhundert. Passend zu diesem zeitlichen und historischen Umbruch liefert Nietzsche mit seinem Essay einen revolutionären neuen Denkansatz der Sprachphilosophie bezüglich der Sprachentstehung.
Vermutlich möchte Nietzsche mit seinem sprachtheoretischen Text Kritik an der Sprache selbst zum Ausdruck bringen – diese sei seiner Auffassung nach viel zu generalisierend und nehme dem Menschen die Fähigkeit ein Objekt isoliert und absolut zu betrachten, der Mensch fasse Gegenstände nur in Relation zu sich selbst in Worte, wodurch das eigentliche Wesen des Objekts nicht weiter beachtet werde. Somit ist Nietzsches Sprachkritik auf einer Meta-Ebene ebenso eine Kritik am Menschen selbst, denn dieser sei schließlich durch seine irdische Bindung an die Sprache nicht fähig, das wahre Sein der Dinge in seiner Umwelt zu erfassen – folglich ließe sich zusammenfassend als Interpretationshypothese resümieren: Nietzsche kritisiert die durch Unzulänglichkeit und generalisierende mangelnde Spezifität der Sprache limitierte Auffassungs- und Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen.
Da es sich bei dieser Intentionshypothese wohlgemerkt zum jetzigen Zeitpunkt nur um eine Hypothese handelt, möchte ich im Folgenden inhaltliche und strukturtechnische, sowie stilistische Argumente zur Bestätigung bzw. Widerlegung meiner Hypothese herausstellen, um diese je nach dem zu verifizieren oder zu korrigieren.
Nietzsches Essay lässt sich insgesamt in drei Hauptabschnitte teilen, die Einleitung von Zeile 1-48, den Hauptteil von Zeile 49 bis 163 und das Fazit am Ende von Zeile 164 bis 176.
Zuerst möchte ich auf die Einleitung zu sprechen kommen, welche elementare Begriffsdefinitionen und Grundsätze Nietzsches Argumentation beinhaltet:
Gleich zu Beginn des hier vorliegenden Ausschnitts unterstellt Nietzsche in der These “das Individuum … benutze …den Intellekt zumeist zur Verstellung” ( Z.3f ) dem Menschen, er verwende seinen Verstand im Zuge des Egoismus mit dem resultierenden Ziel des eigenen Vorteils.
Aus diesem Postulat folgert Nietzsche nach der Feststellung, dass der Mensch aus gewissen Gründen das Leben in einer größeren Gemeinschaft präferiere ( Z.6f “aus Not und Langeweile” ). Der Mensch ist also nicht in der Lage separat zu existieren, er benötig andere Menschen zur Beschäftigung und zur eigenen Sicherheit. Damit jedoch in dieser primären Zwecksgemeinschaft die Schädigung der eigenen Person und der Mitmenschen durch “Verstellung” ( Z.3 ) zum eigenen Vorteil als Folge des genannten Egoismus’ in Grenzen gehalten wird, benötige der Mensch einen “Friedensschluss” ( Z.10 ).
Dieser “Friedensschluss” wird im nächsten Sinnabschnitt näher erläutert; dieser zieht sich von Zeile 13 bis 20 und thematisiert die “Wahrheit” ( Z.14 ) und die Wahrheitsfindung. Denn hier sieht Nietzsche die Grundproblematik: Der Mensch legt sich darauf fest zur Verhinderung der Schädigung durch Verstellung ehrlich zu sein, also die Wahrheit zu nutzen – es wird eine neue Instanz geschaffen die Wahrheit – da es jedoch keine Urwahrheit gab, ergebe sich daraus das Paradoxon, dass der Mensch etwas als Wahrheit benannte ohne auch nur ansatzweise zu wissen, was das Abstraktum Wahrheit ist. Die Menschen gründen ihr Zusammenleben und ihre Kommunaktion auf etwas, das sie nicht verstehen und somit auch konsequenterweise nicht gezielt einsetzen können ( ” Gesetz der Wahrheit” “fixiert” Z.14ff ). Ursache für die Wahrheitsnotwendikeit sei der menschliche “rätselhafte Wahrheitstrieb” ( Z.12 ); um das gegenseitige egoistische Verstellen zum eigenen Nutzen zu Verhindern, erkennt der Mensch instinktiv, dass er die Wahrheit – oder das, was er dafür hält – als eine Art Gleichschaltungselement zwischen den Menschen braucht.
Nun da der Mensch die beiden Verhaltenstypen “Wahrheit” und “Lüge” hat und Nietzsche bereits zu dem Fazit gekommen ist, dass die Wahrheit von dem Menschen nicht erfassbar ist, das er keine Urwahrheit hat, definiert Nietzsche im folgenden Abschnitt ( Z.20 – 36 ) den Lügenbegriff als Pendant zur Wahrheit. Das typische Lügnerverhalten bestehe darin die “gültigen Bezeichnungen, die Worte” ( Z.23 ) die konventionell wahre Begebenheiten ausdrücken im Kontext unwahrer Tatsachen zu verwenden.
Die typische Reaktion der übrigen belogenen Gesellschaft bei einer offensichtlichen Lüge zeige – so Nietzsche – eine Ablehnung des Lügners, die allerdings auf dem Akt des Lügens selbst basiere, sondern auf den negativen Folgen der Lüge.
Im folgenden Abschnitt von Zeile 36 bis 43 nennt Nietzsche die Folge aus dieser Ablehnung: Der Mensch wünscht sich Wahrheit – und zwar aus dem einfachen Grunde, dass diese ihm in seinem egoistischen Denken Sicherheit schenke ( “angenehme und Leben erhaltende Folge” Z.40 ).
Die Textpassage von Zeile 41 bis 48 erfüllt die Funktion der Überleitung auf die Sprachthematik. Nahezu rhetorisch fragt Nietzsche hier nach dem Zusammenhang zischen Wahrheit und Sprache, auf den er im Folgenden zu sprechen kommt.
Nach Zeile 48 geht Nietzsche in seinem Hauptteil näher auf die Sprache und ihr Verhältnis zur Wahrheit ein.
Hier beginnt Nietzsche mit einer These: Es gibt keine durch Sprache geäußerte Wahrheit. Nietzsche behauptet, dass der Mensch keine Wahrheit im eigentlichen Sinne erfassen kann und immer “Illusionen” für Wahrheiten halte, gebe er sich nicht mit den schwammigen Wahrheitskonventionen zufrieden ( “Tautologie” ). Spätestens hier wird deutlich, dass Nietzsche auch den Menschen selbst kritsiert – er ist schleißlich aufgrund seiner Sprache nicht in der Lage, die Wirklichkeit des Seins zu erfassen, wodurchs ein geistiger Horizont begrenzt ist. Dies unterstützt meine Hypothese in Bezug auf die direkte Kritik auch am Menschen.
Diese These erläutert er argumentativ in den nachfolgenenden Zeilen näher ( Z.55-65 ) – hier geht er auf die Verarbeitung über die Stufen “Abbild – Nervenreiz – Laute” ein und stellt fest, dass die menschlichen Worte und die Sprache nur eine Folge der vollkommen subjektiven menschlichen Verarbeitung sind ( “Ursache außer uns” Z.58 ) – dies unterstützt meine Inetntionshypothese. Diese implizierte weitere These erläutert er näher durch ein veranschaulichendes Beispiel ( Z. 65 – 75 ).
Die Sprache sei nach Nietzsche in einer Erläuterung der These ( Zeile 75 bis 93 ) viel zu oberflächig, zu generalisierend und unpräzise, um die wahre Natur eines Objekts zu erfassen – diese Problemetik habe die Ursache, dass durch Sprache immer die “Relation der Dinge zu dem Menschen” ( Z.86 ) beschrieben werde – der Mensch erfasst ein Objekt also nie isoliert und absolut, sondern immer in Bezug auf sich selbst und somit relativ. Diese relative Auffassung, die folglich nicht der wahren Natur des Objekts entspricht wird jedoch durch die menschliche Verarbeitung noch weiter abstrahiert und unpräzisiert: der Mensch konstruiert durch einen Nervenreiz ein Bild des Gegenstandes auf subjektive Weise und abstrahiert und unpräzisiert diese “erste Metapher” ( Z.89 ) dann schließlich noch einmal zu einem Laut, der “zweiten Metapher” ( Z.91 ). Somit ist die Wortfindung und die Sprachentstehung nach Nietzsche ein vollkommen subjektiver, relativer Prozess mit zwie drastischen Abstraktionsschritten. Insegesamt bestärkt auch dieses Argument meine Hypothese, da Nietzsche hier herausstellt, dass der Mensch durch die Sprache nicht objektiv und beschreibend die Wirklichkeit wahrnimmt, sondern das wahre Sein des Gegenstands, das durch den Nervenreiz doppelt metaphorisiert wird, verfälscht und nicht erfassen kann.
Diese doppelte Metaphorisierung untermalt und erläutert Nietzsche mit einem metaphorischen Beispiel in den folgenden Textzeilen 94 bis 109. Hier vergleicht er die sprechenden Menschen mit einem Tauben, der als Ursache der “chladnischen Klangfiguren” ( Z. 95ff ) die Saiten erkennt und dann meint, zu wissen was die Hörenden Ton nennen. Es folgt die Schlussfolgerung in Form eines Beispiels, dass der Mensch über keine wahren Beschriebungen seiner Umgebung verfügt, sondern nur über subjektiv-relative Metaphern.
Er belegt seine Ursprungsthese auch in Bezug auf die Begriffsbildung ( 117 – 126 ) – ein Urerlebnis führt zur Begriffsbildung, weiterhin wird dieser Begriff jedoch verallgemeinert auf zahlreiche ähnliche, aber schließlich doch nicht gleiche Erlebniss angewendet, es kommt zum “Gleichsetzen des Nichtgleichen” ( Z.126 ) – auch dieses erklärt Nietzsche an einem Beispiel, hier bezieht er sich auf die Vielfalt der Blätter, die doch alle als Blätter bezeichnet werden ( Z.127 – 138 ). Es folgt daraus wieder eine Unterstützung meiner Intentionshypothese – der Mensch verwendet Sprache viel zu allgemein und kann nicht die wahren feinen Unterschiede mit Worten erfassen.
In den Zeilen 139 bis 151 liefert Nietzsche eine Erklärung des Problems der Ehrlichkeit des Menschen – die es eigentlich gar nicht gibt. Dadurch dass der Mensch mit der Sprache ähnliche Ereignisse oder Objekte gleich bezeichnet, setzt er das Ungleiche gleich ( Z.147f) und spricht somit keine Wahrheit, da er schließlich nicht ausreichend zwischen verschiedenen Fällen differenziert. Der Mensch ist also nie wirklich “ehrlich” ( Z. 140 ), doch der Mensch dies scheinbar nicht bewustt merkt, spricht er trotzdem von Ehrlichkeit ( Z.150 ” qualitas occulta” ).
Die menschliche Ignoranz der Diversität der wahren Seins gibt dem Menschen das Werkzeug der Kategorisierung, welche es in der Natur selbst nicht gibt, diese Erkenntnis folgert Nietzsche und betitelt dies mit dem ” Übersehen des Individuellen und Wirklichen ” ( Z.153 ).
Im letzten Abschnitt des vorliegenden Textausschnitts resümiert Nietzsche noch einmal die Ergebnisse ( Z. 164 – Ende ). Er stellt heraus, dass der Mensch im Endeffekt keine neutralen Worte zur Beschreibung der wirklichen Becshaffenheit eines Objekts dienen, sondern nur eine Sammlund an Metaphern, die im Zuge der Sprachentstehung viel zu generalisiert und unpräzise verwendet werden.
Denn er schließt mit ” die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind ” ( Z.170f ).
Insgesamt lässt sich folgernd sagen, dass meine Intentionshypothese relativ zutreffend scheint, der Mensch ist nach Nietzsche mitunter wegen seines Egoismus in der Gemeinschaft auf die Wahrheit angewiesen, die er selbst aufgrund seiner viel zu allgemeinen und immer subjektiv relativen Beschreibung durch Worte nie erreichen kann.
Problematisch ist hierbei, dass der Mensch keine Urwahrheit hat, an der festmachen könnte, was Wahrheit überhaupt ist – es wird im menschlichen Zusammenleben also etwas gefordert, das aufgrund des nicht Verstehens auch nicht erreichbar ist.
Hieraus resultiert eine Menschenkritik, denn wäre der Mensch nicht so egoistisch, wäre eine gleichmachende Wahrheit nicht notwendig, es findet sich also auch moralische Kritik. Die Sprache entsteht nach Nietzsche durch ein Objekt das mittels Nervensignal wahrgenommen wird, welches dann doppelt metaphorisiert, also abstrahiert wird.
Die Worte die der Mensch benutzt sind alle viel zu generalisiert, außerdem ist der Mensch nach Nietzsche auch nicht in der Lage, ein Objekt im isolierten und absoluten Seinszustand wahrzunehmen bzw. verbal zu beschreiben – der Mensch betrachtet alles in Bezug auf sich selbst. Schon allein dadurch ist die Sprache zu kritisieren – denn im Endeffekt ist es doch, so Nietzsche, die Sprache, die den menschlichen Erfassungs- und Auffassungshorizont begrenzt! Wäre die Sprache leistungsfähiger, so wäre der Mensch womöglich in der Lage, die Wirklichkeit in ihrer puren und nicht-metaphorisierten Reinform wahrzunehmen.
Der Mensch ist zu kritisieren, da er ignorant und egoistisch ist – was auf ein sehr negatives Menschenbild Nietzsches hindeutet – die Sprache ist zu kritisieren, da sie der Spezies Mensch in ihrer geistigen und verbalen Auffassungs- und Wahrnehmungsfähigkeit Grenzen setzt, der Mensch hantiert im Alltag also nicht mit objektiv beschreibenden Worten, sondern nur mit rein subjektiven Ego-bezogenen Metaphern.