Werkbesprechung:
Wie verknüpfen sich im Vorleserdie Themen Schuld und Analphabetismus?
In dem Roman „Der Vorleser“, der 1995 von Bernhard Schlink geschrieben wurde, geht es um die Themen Schuld und Analphabetismus.
Michael Berg, ein 15-jähriger Schüler hat ein heimliches Liebesverhältnis mit der um 21 Jahre älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz. Nach ein paar Monaten, die sie glücklich miteinander verbracht haben, ist seine Freundin plötzlich verschwunden. Als Michael Jura studiert, verfolgt er mit großem Eifer einen KZ- Prozess und sieht zu seiner Verwunderung Hanna wieder: Sie ist eine der fünf Angeklagten. In dem Verfahren geht es um frühere SS- Aufseherinnen in dem Konzentrationslager Auschwitz, die sich an Selektionen beteiligt haben. Weiters werden sie angeklagt, weil sie nach der Evakuierung die Häftlinge in einer von einem Bombenanschlag getroffenen Kirche verbrennen ließen. Hanna wird verurteilt und muss ins Gefängnis. Einen Tag vor ihrer Entlassung bringt sie sich um.
Als der 15-jährige Michael Hanna Schmitz kennen lernt, ist diese 36 Jahre alt. Sie zeigt sich einerseits ihm gegenüber als äußerst fürsorglich und schon fast mütterlich, denn sie hilft Michael, als er sich übergibt und tadelt ihn, wenn er wegen ihr den Unterricht schwänzt. Auf der anderen Seite ist sie ein sehr dominanter Mensch, was sich auch in der Beziehung zu ihrem Freund zeigt. Dies wird besonders deutlich, wenn die beiden miteinander streiten „Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe alle Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte ich darum, daß sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich liebe.“(S50). Meist zwingt sie Michael schon fast, dass er die ganze Schuld auf sich nimmt und sich entschuldigt und wenn dem nicht so ist, nutzt sie seine sexuelle Abhängigkeit aus. Hanna ist ebenfalls eine sehr wissbegierige Frau, die so ein großes literarisches Interesse zeigt, dass sie in Michaels und ihr „Sexritual“ das Vorlesen eingebaut hat. Weiters will sie stets ihren „guten Ruf“ bewahren, was letztendlich sogar so weit geht, dass sie lieber eine lebenslange Haftstrafe auf sich nimmt, als ihre Schwächen, unter anderem, dass sie nicht lesen kann, preiszugeben. Die Schwäche von Hannas Freund Michael Berg ist es, vor unangenehmen Situationen zu fliehen. „Gertrud sagte, das sei eine Flucht, eine Flucht vor der Herausforderung und Verantwortung des Lebens, und sie hatte recht.“(S171). Er lässt sich auch von Hanna in Streitgesprächen lieber das Recht absprechen, als Widerstand zu leisten und bei seiner Meinung zu bleiben, denn er hat Angst vor ihrer Zurückweisung. Auch als sein Vater ihm rät, mit Hanna über ihren Analphabetismus zu reden, geht er zum Richter und vermeidet so das Gespräch mit ihr. Außerdem handelt er oft irrational. Entscheidungen, die er jedoch mit seinem Verstand beschlossen hat, werden dann meist anders umgesetzt. „Ich denke, komme zu einem Ergebnis, halte das Ergebnis in einer Entscheidung fest und erfahre, daß das Handeln eine Sache für sich ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht muß.“(S21/22). Michael neigt auch zur Verdrängung und zum „emotionalen Abgrenzen“ von anderen Personen. Nach der plötzlichen Trennung von Hanna, zeigt er sich als arrogante, abweisende Person. Durch diese Veränderung des Charakters ist die Wahrscheinlichkeit niedriger, nochmal emotional verletzt zu werden. Er selbst ist sich sogar der Verdrängung bewusst: „Wenn ich länger zurückdenke, […] weiß ich, daß ich die Erinnerung an Hanna zwar verabschiedet, aber nicht bewältigt hatte.“(S84).
„Guten Morgen! Hole Frühstück, bin gleich wieder zurück!“(S54). Als Hanna mit Michael gemeinsam die Osterferien verbringt, eines Morgens aufwacht und diesen Zettel vorfindet, ist sie komplett hilflos, denn sie kann nicht lesen. Sie wird plötzlich ängstlich und aggressiv, weil sie sich von Michael allein gelassen vorkommt und die Situation eigentlich nicht richtig erfasst. „Zitternd vor Wut und weiß im Gesicht“ schreit sie ihn an. „Wie kannst du einfach so gehen!“(S54). Sie geht sogar so weit, dass sie ihn mit einem Gürtel schlägt, sodass seine Lippe aufplatzt. Nur weil sie Analphabetin ist und die Situation nicht erfassen konnte und sogar falsch gedeutet hat, wendet sie körperliche Gewalt an und macht sich somit „schuldig“. Als sie bei Siemens, der Firma, bei der sie angestellt ist, befördert werden sollte, will sie vor der Bloßstellung fliehen und somit geht sie „freiwillig zur SS[…]“(S91). Sie tut alles Mögliche und nimmt sogar Schuld auf sich, um ihre Schwäche geheim zu halten, sodass ihr „guter Ruf“ nicht verloren geht und sie nicht von der Gesellschaft verstoßen oder verachtet wird. „Indem Hanna zugab, den Bericht geschrieben zu haben, hatten die anderen Angeklagten ein leichtes Spiel. […] Sie habe das Kommando an sich gerissen. Sie habe Feder und Wort geführt. Sie habe entschieden.“(S130). Sie fühlt sich einerseits verpflichtet ihre Ehre zu verteidigen. Andererseits jedoch ist sie eine von Natur aus sehr dominante, starke Person, die nie falsche Schuld eingestehen würde. „Hanna kämpfte weiter. Sie gab zu was stimmte und bestritt, was nicht stimmte.“(S131). Doch um ihren Analphabetismus zu verstecken muss sie immer mehr lügen und gerät in eine Art Spirale, aus der sie scheinbar nicht mehr herauskommen kann, bis sie letztendlich zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wird. Michael verfolgt den ganzen Prozess eifrig mit und weiß, auf was Hannas „Notlügen“ hinauslaufen. „Ich sagte mir, ich müsse ein Fehlurteil verhindern. Ich müsse dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht[…].“(S153). Aber er erzählt dem Richter nichts von Hannas Analphabetismus und vermindert somit nicht das Strafmaß seiner ehemaligen Geliebten. Er macht sich an ihr schuldig.
Ich persönlich verstehe Hannas Angst ihren „guten Ruf“ zu verlieren. Es muss schrecklich sein, als Analphabetin bloßgestellt zu sein, doch meine Scham würde nicht so weit gehen, dass ich mich unschuldig zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe, die ich nicht verdient habe, verurteilen lasse. Heutzutage könnte sich die Situation genau so abspielen. Mittlerweile muss jeder Mensch, von der Hausfrau ohne Beruf, bis zum Manager, lesen können um den Alltag problemlos bestehen zu können. Somit wird das Leben für Analphabeten leider immer schwieriger, sie müssen immer mehr Hürden im Alltag überwinden und täglich mit derselben Angst wie Hanna leben. Die Angst bloßgestellt zu werden.