Redeanalyse Christa Wolf „Befreite Sprache”

Anlässlich der Massenflucht aus der DDR im Herbst 1989 hielt Christa Wolf ihre politische Rede „Befreite Sprache” am 4. November (des) selben Jahres in Berlin vor ca. hunderttausend Demonstranten.

Diese Menschen bilden das Volk, dessen Position sie zum einen durch die Repetitio „Volk” und zum anderen durch die Allusion auf potentielle zukünftige revolutionäre Veränderungen aufwertet, dessen Macht – die Volksherrschaft – sie jedoch auch durch das Zitat „Demokratie – jetzt oder nie” auf eine höhere Stufe setzt. Die (Ver-)Ehrung der, bzws. Begeisterung für die Regierung wird dagegen mit dem Satz „Zu Huldigungsvorbeizügen und verordneten Manifestationen werden wir keine Zeit mehr haben” ins Lächerliche gezogen, auch das Wortspiel zu Beginn der Rede; „revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache”; soll zum Nachdenken anregen und ist eine Anspielung auf die Zeit davor, in der die Menschen in „Gefangenschaft” gelebt und der Regierung gehorcht haben. So redet die Autorin in einem verbindlichen „wir” zu den Menschen und macht sich so selbst zu einer Betroffenen, spielt aber auch den Beobachter oder Berichterstatter, indem sie die Situation, welche den Gegenstand dieser darstellenden Rede bildet, von außen betrachtet. Nach einer die Zusammengehörigkeit betonenden Apostrophe spricht sie das Thema „revolutionäre Veränderungen” an, um dann in eine Wiedergabe des aktuellen Lebens der Bürger überzugehen, das sie in dem Klimax „Vergangenes”, „Gegenwärtiges” und „Zukünftiges” darstellt und mit Anaphern („noch nie geredet”, „mit so viel”) und Variationes („Revolution”/ „revolutionär”; „Wende”/ „Wendung”/ „Wendigen”) einprägsam macht. Während sie mit der Frage nach der „Wende” beginnt, die sie mit dem Bild des Segelbootes verdeutlicht, so endet sie mit der Feststellung, dass es eine „Wandlung” im Volk gab – die Rede bildet einen Kreis. So besteht die Hauptaussage in dem Appell an das Volk auf dessen Recht auf (Meinungs-)Freiheit zu bestehen, die Sprache wiederzufinden und beides zu nutzen. Die These „Dies ist eine Demo, genehmigt, gewaltlos.” wird mit der Metapher und Personifikation der Sprache belegt, sowie mit den Losungen, die teilweise als indirekte Befehle von ihr benutzt werden und die Worte des Volkes wiedergeben. Persönlichen Bezug zu ihrem Publikum – besser gesagt zu allen Einwohnern Berlins/ der DDR – nimmt sie in ihrem ganzen Text, besonders durch das Ansprechen der Gefühle der Menschen, wenn auch die eigenen nicht ganz so deutlich zum Vorschein kommen. Auch belebt sie ihre zweifelsohne auch informative (und appellative) Rede durch (aufheiternde) veränderte Redewendungen wie „Misstrauen ist gut, Kontrolle noch besser” oder „Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg.”. Die Wirkung auf das Publikum ist befriedigend gewesen, denn es bekam die Bestätigung der Richtigkeit seiner vergangenen und gegenwärtigen Taten.

Durch all diese Dinge, finde ich, wirken Christa Wolfs Worte sehr ansprechend und der Empfänger derer bekommt einen guten Einblick in die damalige Situation. Man hat nicht den Eindruck, dass sie das Ziel hat, sich Respekt einzuflößen oder durch gezielte Beeinflussung des Publikums dessen Stimme zu erlangen, sondern eher, dass sie einen Appell an die Menschen losschickt, an sich selbst zu glauben und den/ m Ruf nach Freiheit durchzusetzen/ Folge zu leisten, bzw. sich gegen das damals bestehende System zur Wehr zu setzen.
Ich denke, dass man bis heute noch dieses neu gewonnene Selbstbewusstsein der Menschen sieht, das sie durch den darauf folgenden Durchbruch bekamen.

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Redeanalyse: Befreite Sprache
Wissen verdoppelt sich, wenn man es teilt.
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